Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
in die Person zurück, die sie vor Sabithas Aufenthalt in der Stadt gewesen war. Altklug, strebsam, naseweis. Nach drei Wochen in der High School wusste sie, dass sie in allen neuen Fächern – Latein, Algebra, englische Literatur – sehr gut sein würde. Sie war überzeugt, dass man ihre Klugheit erkennen und belobigen würde und dass eine bedeutende Zukunft vor ihr lag. Die Kindereien des letzten Jahres mit Sabitha gerieten langsam außer Sicht.
Doch wenn sie an Johanna und deren Aufbruch nach Westen dachte, dann spürte sie einen kalten Hauch aus ihrer Vergangenheit, eine wuchernde Furcht. Sie versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken, aber es wollte keine Ruhe geben.
Sobald sie mit dem Abwasch fertig war, ging sie auf ihr Zimmer und nahm das Buch für den Literaturunterricht mit,
David Copperfield.
Sie war ein Kind, das von seinen Eltern nie Schlimmeres als sanfte Rügen erhalten hatte – ein Kind verhältnismäßig alter Eltern, was zur Erklärung ihres Wesens herangezogen wurde –, aber sie fühlte sich ganz im Einklang mit David in seiner unglückseligen Lage. Sie empfand, sie war wie er, könnte auch ein Waisenkind sein, denn sie würde wahrscheinlich weglaufen, sich verstecken, sich ganz allein durchschlagen müssen, sobald die Wahrheit ans Licht kam und ihre Vergangenheit ihr die Zukunft versperrte.
Alles hatte damit angefangen, dass Sabitha auf dem Weg zur Schule sagte: »Wir müssen beim Postamt vorbei. Ich muss einen Brief an meinen Vater aufgeben.«
Sie gingen den Schulweg jeden Tag gemeinsam. Manchmal mit geschlossenen Augen oder rückwärts. Manchmal, wenn ihnen Leute begegneten, schwatzten sie leise in einer erfundenen Sprache, um Verwirrung zu stiften. Die meisten ihrer guten Einfälle stammten von Edith. Der einzige Einfall, den Sabitha beisteuerte, war, den eigenen Namen und den eines Jungen aufzuschreiben, alle Buchstaben auszustreichen, die doppelt vorkamen, und die restlichen zu addieren. Die zählte man dann an den Fingern ab und sagte dabei
Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit,
bis man bei dem angelangt war, was einem mit diesem Jungen bevorstand.
»Das ist aber ein dicker Brief«, sagte Edith. Ihr fiel alles auf, und sie prägte sich alles ein, lernte ganze Seiten aus den Lehrbüchern so rasch auswendig, dass es den anderen Kindern unheimlich vorkam. »Hattest du deinem Vater so viel zu schreiben?«, fragte sie überrascht, denn sie konnte das nicht glauben – oder konnte zumindest nicht glauben, dass Sabitha es zu Papier bringen würde.
»Ich hab nur eine Seite geschrieben«, sagte Sabitha und befühlte den Brief.
»A-ha«, sagte Edith. »Ah. Ha.« »Was aha?«
»Ich wette, sie hat was dazugesteckt. Johanna, meine ich.« Es lief darauf hinaus, dass sie den Brief nicht gleich aufs Postamt brachten, sondern nach der Schule bei Edith zu Hause über Dampf öffneten. Solche Sachen konnten sie bei Edith zu Hause machen, weil ihre Mutter den ganzen Tag in der Schuhmacherei arbeitete.
Lieber Mr Ken Boudreau,
ich dachte einfach, ich schreibe Ihnen und bedanke mich bei Ihnen für die netten Worte, die Sie in Ihrem Brief an Ihre Tochter über mich geschrieben haben. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich weggehe. Sie schreiben, ich wäre jemand, dem Sie vertrauen können. So habe ich es wenigstens verstanden, und soweit ich weiß, stimmt das. Ich bin Ihnen dankbar für diese Worte, denn manche Leute meinen, jemand wie ich, dessen Herkunft sie nicht kennen, ist nicht hasenrein. Also dachte ich, am besten erzähle ich Ihnen was über mich. Ich wurde in Glasgow geboren, aber meine Mutter musste mich weggeben, als sie geheiratet hat. Ich kam mit fünf Jahren ins Heim. Ich habe so sehr gehofft, sie holt mich zurück, aber sie hat mich nicht geholt, und dann habe ich mich da eingewöhnt und es war gar nicht so schlimm. Aber mit elf Jahren wurde ich durch ein Programm nach Kanada geschickt und habe bei den Dixons gelebt und in ihrer Gemüsegärtnerei gearbeitet. Schule gehörte auch zu dem Programm, aber ich habe nicht viel davon gesehen. Im Winter habe ich im Haus für die Frau gearbeitet, aber Umstände veranlassten mich wegzugehen, und da ich für mein Alter groß und kräftig war, wurde ich bei einem Pflegeheim angenommen und habe alte Leute versorgt. Die Arbeit hat mir nichts ausgemacht, aber besserer Bezahlung halber bin ich gegangen und habe in einer Besenfabrik gearbeitet. Der Besitzer, Mr Willets, hatte eine alte Mutter, die vorbeikam, um nach dem
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