Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Grant.
    »Schon gut, schon gut«, sagte Fiona. Sie hätte ihm selbst die Nase geputzt und die Tränen abgewischt – und wenn sie allein gewesen wären, hätte er es vielleicht zugelassen. Aber in Grants Gegenwart wollte er es nicht erlauben. Er griff sich die Kleenex, so gut er konnte, und wischte sich ein paar Mal ungeschickt, aber mit Erfolg im Gesicht herum.
    Während er beschäftigt war, wandte Fiona sich an Grant.
    »Hast du hier zufällig einigen Einfluss?«, flüsterte sie. »Ich habe dich mit ihnen reden sehen …«
    Aubrey gab ein Geräusch des Protestes oder der Erschöpfung oder der Entrüstung von sich. Dann kippte sein Oberkörper vornüber, als wollte er sich in ihre Arme werfen. Sie krabbelte halb aus dem Bett, fing ihn auf und umklammerte ihn. Es kam Grant ungehörig vor, ihr zu helfen, obwohl er es natürlich getan hätte, wenn er den Eindruck gehabt hätte, dass Aubrey drohte, zu Boden zu stürzen.
    »Schsch«, sagte Fiona. »Ach, Liebling. Schsch. Wir werden uns sehen. Wir müssen. Ich komme dich besuchen. Du kommst mich besuchen.«
    Aubrey gab mit dem Gesicht an ihrer Brust wieder dasselbe Geräusch von sich, und wenn Grant den Anstand wahren wollte, blieb ihm nichts übrig, als aus dem Zimmer zu verschwinden.
    »Wenn seine Frau sich bloß beeilen und herkommen würde«, sagte Kristy. »Wenn sie ihn bloß endlich abholen und der Qual ein Ende machen würde. Wir müssen bald das Abendbrot bringen, und wie sollen wir sie dazu kriegen, irgendwas zu schlucken, solange er sich noch hier rumdrückt?«
    Grant fragte: »Soll ich bleiben?«
    »Wozu? Sie ist ja nicht krank.«
    »Um ihr Gesellschaft zu leisten«, sagte er.
    Kristy schüttelte den Kopf.
    »Sie muss über so was allein hinwegkommen. Die meisten hier haben ja ein kurzes Gedächtnis. Das ist nicht immer so schlecht.«
    Kristy war nicht hartherzig. Seit Grant sie kannte, hatte er einiges über ihr Leben in Erfahrung gebracht. Sie hatte vier Kinder. Sie wusste nicht, wo ihr Mann war, vermutete ihn aber in Alberta. Das Asthma ihres jüngsten Sohnes war so schlimm, dass er eines Nachts im Januar gestorben wäre, wenn sie ihn nicht rechtzeitig in die Notaufnahme gebracht hätte. Er nahm keine verbotenen Drogen, aber bei seinem Bruder war sie sich nicht so sicher.
    In ihren Augen mussten Grant und Fiona und Aubrey Glück gehabt haben. Sie waren durchs Leben gekommen, ohne dass zu viel schief gegangen war. Was sie jetzt im Alter zu leiden hatten, zählte kaum.
    Grant ging, ohne in Fionas Zimmer zurückgekehrt zu sein. Ihm fiel auf, dass an diesem Tag ein warmer Wind wehte und die Krähen einen Heidenlärm machten. Auf dem Parkplatz holte eine Frau in einem karierten Hosenanzug einen zusammengeklappten Rollstuhl aus dem Kofferraum ihres Autos.
     
    Die Straße, die er entlangfuhr, hieß Black Hawks Lane. Alle Straßen in diesem Viertel hießen nach Mannschaften in der alten Hockeyoberliga. Es lag in einem Außenbezirk der Stadt in der Nähe von Wiesensee. Er hatte mit Fiona regelmäßig in dieser Stadt eingekauft, aber nichts weiter von ihr kennen gelernt als die Hauptstraße.
    Die Häuser sahen aus, als seien sie alle um dieselbe Zeit erbaut worden, vielleicht vor dreißig oder vierzig Jahren. Die Straßen waren breit und geschwungen und ohne Bürgersteige – was die Zeit in Erinnerung rief, als es für unwahrscheinlich gegolten hatte, dass irgendjemand je wieder zu Fuß gehen würde. Freunde von Grant und Fiona waren in solche Viertel gezogen, als sie Kinder bekamen. Anfangs entschuldigten sie sich für den Umzug. Sie nannten das ihren »Ausflug in die Barbecue-Wildnis«.
    Junge Familien wohnten immer noch hier. Über Garagentüren hingen Basketballkörbe, und in den Auffahrten standen Dreiräder. Aber einige Häuser waren heruntergekommen und hatten nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Familienheimstätten, als die sie einmal gedacht waren. Die Vorgärten waren von Reifenspuren durchpflügt, die Fenster waren mit Alufolie zugeklebt oder mit ausgeblichenen Fahnen verhängt.
    Vermietete Häuser. Junge männliche Mieter – immer noch oder schon wieder allein stehend.
    Ein paar Häuser wurden offenbar so gut wie möglich von den Leuten instand gehalten, die einst in die Neubauten eigezogen waren – Leute, die nicht das Geld hatten oder vielleicht kein Bedürfnis verspürten, in eine bessere Gegend zu ziehen. Sträucher hatten sich zu voller Größe ausgewachsen, pastellfarbene Vinylverkleidungen hatten das Problem neuer Anstriche beseitigt.

Weitere Kostenlose Bücher