Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Dickleibigkeit, die er seit seinem zwölften Lebensjahr gehabt hatte, verschwand. Treppen lief er zwei Stufen auf einmal hinauf. Er genoss wie nie zuvor den Pomp zerrissener Wolken und winterlicher Sonnenuntergänge beim Blick aus seinem Bürofenster, den Charme der antiken Lampen, die zwischen den Wohnzimmmervorhängen seiner Nachbarn leuchteten, das Geschrei der Kinder im Park bei Dämmerung, weil sie keine Lust hatten, ihren Rodelhügel zu verlassen. Im folgenden Sommer lernte er die Namen von Blumen auswendig. In seinem Seminarraum, nach Nachhilfeunterricht von seiner nahezu ihrer Stimme beraubten Schwiegermutter (sie litt an Kehlkopfkrebs), wagte er sich an eine Rezitation und Übersetzung der majestätischen und blutrünstigen Ode, der »Haupteslösung«, der
Höfudslausn,
verfasst zu Ehren des Königs Erik Blutaxt von einem Skalden, den der König zum Tode verurteilt hatte. (Und der dann vom selben König – und durch die Kraft seiner Dichtkunst – freigelassen wurde.) Alle klatschten Beifall – sogar die Friedensaktivisten in seinem Kurs, die er vorher fröhlich angepflaumt und gefragt hatte, ob sie nicht lieber draußen im Flur warten wollten. Auf der Heimfahrt an jenem Tag oder an einem anderen ging ihm ein absurdes und blasphemisches Zitat im Kopf herum.
Und so wuchs er an Weisheit und Gestalt
Und in der Gunst Gottes und der Menschen.
Das beschämte ihn damals und jagte ihm einen abergläubischen Schauder über den Rücken. Wie auch heute noch. Aber solange niemand sonst davon wusste, ließ er es sich durchgehen.
Er nahm das Buch mit, als er das nächste Mal nach Wiesensee fuhr. An einem Mittwoch. Auf der Suche nach Fiona ging er zu den Kartentischen und konnte sie nicht entdecken.
Eine Frau rief ihm zu: »Sie ist nicht hier. Sie ist krank.« Sie klang wichtigtuerisch und aufgeregt – stolz auf sich, weil sie ihn erkannt hatte, wohingegen er nichts von ihr wusste. Vielleicht auch stolz auf all das, was sie über Fiona wusste, über Fionas Leben hier, überzeugt, dass sie wahrscheinlich mehr darüber wusste als er.
»Er ist auch nicht da«, sagte sie.
Grant begab sich auf die Suche nach Kristy.
»Eigentlich nichts«, sagte sie, als er fragte, was Fiona fehlte. »Sie legt heute nur mal einen Tag im Bett ein, nur ein bisschen durcheinander.«
Fiona saß aufrecht im Bett. Ihm war bei seinen wenigen Aufenthalten in diesem Zimmer entgangen, dass es sich um ein Krankenhausbett handelte, das derart verstellt werden konnte. Sie trug eines ihrer hochgeschlossenen, jungfräulichen Nachthemden, und ihr Gesicht zeigte eine Blässe, die nicht an Kirschblüten erinnerte, sondern an Mehlteig.
Aubrey saß in seinem Rollstuhl neben ihr, so nah am Bett wie nur möglich. Statt seines üblichen unscheinbaren, am Hals offenen Hemdes trug er einen Anzug mit Schlips. Sein fescher. Tweedhut lag auf dem Bett. Er sah aus, als sei er in wichtigen Geschäften unterwegs gewesen.
Bei seinem Anwalt? Seinem Finanzberater? Um Vorkehrungen für seine Beerdigung zu treffen?
Was er auch getan hatte, es hatte ihn offensichtlich erschöpft. Auch er war grau im Gesicht.
Beide sahen zu Grant mit steinerner, leidvoller Vorahnung auf, die sich in Erleichterung, wenn auch nicht in Wiedersehensfreude verwandelte, als sie erkannten, wer er war.
Nicht die Person, die sie befürchtet hatten.
Sie hielten sich bei den Händen und wollten nicht loslassen.
Der Hut auf dem Bett. Der Anzug mit Schlips.
Nicht, weil Aubrey unterwegs gewesen war. Es ging nicht darum, wo er gewesen war oder wen er aufgesucht hatte. Sondern darum, wohin er nun musste.
Grant legte das Buch aufs Bett neben Fionas freie Hand.
»Es ist über Island«, sagte er. »Ich dachte, vielleicht hast du Lust, es dir anzuschauen.«
»Danke schön«, sagte Fiona. Sie warf keinen Blick auf das Buch. Er legte ihre Hand darauf.
»Island«, sagte er.
Sie sagte: »Island.« In der ersten Silbe schwang ein Hauch von Interesse mit, aber die zweite Silbe fiel herunter. Jedenfalls musste sie ihre Aufmerksamkeit wieder Aubrey zuwenden, der seine große dicke Hand der ihren entzog.
»Was hast du?«, fragte sie. »Was hast du, liebes Herz?«
Grant hatte diesen blumigen Ausdruck noch nie von ihr gehört.
»Ach, ja«, sagte sie. »Hier hast du.« Und sie zog eine Hand voll Papiertaschentücher aus der Schachtel neben dem Bett.
Aubreys Problem war, dass er weinen musste. Seine Nase lief, und er war ängstlich bemüht, kein trauriges Schauspiel zu bieten, besonders nicht vor
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