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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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bestimmtes Bild oder einen Stuhl als Orientierungspunkt, und in der nächsten Woche schien der ausgesuchte Gegenstand umquartiert worden zu sein. Er mochte das Kristy gegenüber nicht erwähnen, damit sie nicht dachte, er litte selbst an Ausfallerscheinungen. Er nahm an, dieses ständige Umräumen geschah den Patienten zuliebe – damit ihre täglichen Gänge interessanter wurden.
    Er erwähnte auch nicht, dass er manchmal von Ferne eine Frau sah, die er für Fiona hielt, was er dann aber wegen der Kleidung, die die Frau trug, als unmöglich abtat. Wann hatte Fiona sich je für leuchtend geblümte Blusen und stahlblaue Freizeithosen erwärmt? Eines Dienstags schaute er aus dem Fenster und sah Fiona – sie musste es sein – Aubrey über einen der gepflasterten Wege schieben, die jetzt von Schnee und Eis geräumt waren, und sie trug einen albernen Wollhut und eine Jacke mit blauen und violetten Kringeln, wie er sie im Supermarkt an Frauen aus dem Ort gesehen hatte.
    Es musste daran liegen, dass man sich nicht die Mühe machte, die Kleidungsstücke der Frauen, die ungefähr dieselbe Größe hatten, auseinander zu sortieren. Und sich darauf verließ, dass die Frauen ihre eigenen Sachen ohnehin nicht wiedererkannten.
    Man hatte ihr auch die Haare geschnitten. Man hatte ihren engelhaften Heiligenschein abgeschnitten. An einem Mittwoch, als alles normaler war und die Kartenspiele wieder stattfanden und die Frauen im Werkraum Seidenblumen oder Trachtenpuppen anfertigten, ohne dass ihnen jemand über die Schulter guckte, um sie zu nerven oder zu bewundern, und als Aubrey und Fiona wieder in Erscheinung traten, so dass es Grant möglich war, mit seiner Frau eines dieser kurzen und freundlichen und in die Verzweiflung treibenden Gespräche zu führen, fragte er sie: »Warum hat man dir die Haare abgehackt?«
    Fiona fasste sich prüfend an den Kopf.
    »Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte sie.
     
    Er kam auf den Gedanken herauszufinden, was im ersten Stock vorging, wo die Menschen verwahrt wurden, die, wie Kristy sich ausdrückte, es überhaupt nicht mehr packten. Diejenigen, die hier unten herumliefen und Selbstgespräche führten oder Entgegenkommenden merkwürdige Fragen stellten (»Hab ich meinen Pullover in der Kirche liegen lassen?«), packten es offenbar noch einigermaßen.
    Waren noch nicht reif für den ersten Stock.
    Es gab Treppen, aber sie führten zu verschlossenen Türen, und die Schlüssel dafür hatte nur das Personal. Der Fahrstuhl ließ sich nicht benutzen, es sei denn, jemand in der Anmeldung drückte auf einen Knopf, so dass er aufging.
    Was machten sie, wenn sie es nicht mehr packten?
    »Manche sitzen einfach nur da«, sagte Kristy. »Manche sitzen da und weinen. Manche schreien wie am Spieß. Aber so genau wollen Sie das gar nicht wissen.«
    Manchmal packten sie es wieder.
    »Man geht ein Jahr lang in ihr Zimmer, und sie kennen einen nicht. Dann eines Tages heißt es: Ach, Sie sind’s, wann kommen wir nach Hause? Ganz plötzlich sind sie wieder völlig normal.«
    Aber nicht lange.
    »Man denkt, wunderbar, wieder normal. Und dann sind sie wieder weg.« Sie schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
     
    In der Stadt, in der er früher gearbeitet hatte, gab es einen Buchladen, den er mit Fiona zusammen ein- bis zweimal im Jahr aufgesucht hatte. Nun fuhr er allein dorthin. Ihm war nicht danach, etwas zu kaufen, aber er hatte eine Liste aufgestellt und suchte sich ein paar Bücher darauf aus, und dann kaufte er noch ein anderes Buch, das ihm durch Zufall ins Auge fiel. Es war über Island. Ein Buch mit Aquarellen aus dem neunzehnten Jahrhundert, angefertigt von einer Dame, die Island bereist hatte.
    Fiona hatte nie die Sprache ihrer Mutter erlernt, und sie hatte nie viel Respekt vor den Sagen gehabt, die sich in dieser Sprache bewahrt hatten – die Sagen, die Grant in seinem Berufsleben gelehrt hatte und über die er immer noch schrieb. Ihre Helden nannte sie nur »den ollen Njal« oder »den ollen Snorri«. Aber in den letzten Jahren hatte sie Interesse für das Land selbst gezeigt und Reiseführer studiert. Sie las die Reiseberichte von William Morris und W. H. Auden. Sie hatte eigentlich gar nicht vor, dorthin zu fahren. Sie sagte, das Wetter sei zu schrecklich. Außerdem – sagte sie – sollte man einen Ort haben, an den man dachte und von dem man wusste und nach dem man sich vielleicht sehnte, den man aber nie zu Gesicht bekam.
     
    Als Grant anfing, Angelsächsische und Nordische

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