Himmelsspitz
Ein lautes Blubbern war zu hören, sofort segelte ein großer Uhu über die Köpfe von Lea und Luis hinweg und verschwand vor ihnen im Dickicht. Von der Ferne ertönte alsbald ein lang gezogenes, jaulendes und klagendes Uhhhhh, das ihnen den Weg wies.
Plötzlich fuhr der Wind derart heftig durch den Wald, dass sich dessen Bäume zur Seite bogen. Sie öffneten sich und zeigten in der Ferne eine grasbewachsene Lichtung, auf der ein altes Haus stand, über und über von Moos und Geflechten bewachsen. Es war halb in den Boden gesunken, nur noch die oberen Fenster lugten aus dem Erdreich.
»Wer wohnt denn da vorn, in diesem alten Hof?«, fragte Lea.
»Die Erinnerung und die Zeit«, antwortete der Kater und nahm Lea in seine Tatze, die keine mehr war, denn die spitzen Krallen waren weichen Fingern gewichen, und je näher sie dem Haus kamen, desto mehr verlor das Tier sein Fell. Die steil aufgerichteten Katzenohren zogen sich nach unten, bis sie seitlich am Kopf saßen und wie menschliche Ohrmuscheln aussahen, die Zähne formten sich zu einer ebenmäßigen Reihe, die funkelnden gelben Augen gingen in ein tiefes Blau über, die Schnurrhaare verzogen sich ins Naseninnere, diese selbst war auf einmal gerade und wohlgeformt.
»Kater«, sagte Lea. »Du bist kein Kater, du bist ja ein Mensch.«
»Stimmt«, grinste der Junge, der er geworden war.
»Aber dann kann ich ja nicht mehr Kater zu dir sagen«, meinte Lea.
»Nein, ich heiße nicht Kater, auch nicht Luis, wie mich der Fertl genannt hat. Ich heiße Tobi.« Er blieb stehen und sah sie an. »Gefällt dir der Name?«
Lea nickte. »Ja, ist ein lustiger Name.«
Inzwischen hatten sie die Lichtung erreicht. An den hohen Grashalmen hingen bunte Käfer und schlugen aufgeregt mit ihren Flügeln.
»Sieh an, sieh an, heute bekommen wir aber viel Besuch. Willkommen, ihr beiden«, sagte auf einmal eine krächzende Stimme von oben. Lea blickte hinauf. Über den Halmen thronte, an einen Holzpfahl genagelt, ein riesiges Vogelskelett.
»Ja, das ist Lea, sie wollte sehen, wie es auf dem Himmelsspitz aussieht«, erklärte Tobi. Das Gerippe klapperte mit dem Schnabel, so sehr, dass eine Rippe zu Boden fiel.
»Schon? Sie ist doch noch so klein.« Lea zupfte den Jungen am Arm. »Der Vogel ist doch tot, wie kann er denn sprechen?«, wollte sie wissen.
»Auch Tote leben hier«, erwiderte Tobi, »hier am Ort der Erinnerung, denn diese verleiht ihnen Leben. Wer hier gelebt hat, wird nicht vergessen, und so lebt er weiter und weiter.«
»Zu klein, zu klein«, krächzte der Vogel, doch Tobi hatte Lea schon am Arm genommen und weiter zum Haus geführt.
»Komm mit«, flüsterte er und zog sie in den dunklen, kühlen Hausgang. Der Mond schien durch ein kleines Fenster, direkt an die Wand, an der das Fell eines großen Bären hing. Der wiegte seinen Schädel hin und her, klappte das große Maul auseinander, sodass Lea seine spitzen Zähne sehen konnte.
»Zu jung, zu jung«, brummte er. Tobi öffnete eine Tür zur Stube, in der ein älterer Mann und eine blässliche Frau zusammen mit ihren Kindern bei Kerzenlicht am Tisch saßen. Sie winkten fröhlich mit ihren Löffeln. »Tobi und Lea, wir warten schon die ganze Zeit auf euch, kommt, das Mus wird kalt«, sagte der Mann.
»Großvater, ich zeig Lea den Himmelsspitz«, antwortete Tobi und schloss wieder die Tür. Dann ging er im Gang zur hinteren Ecke, wo im Boden ein großer Holzdeckel mit einem eisernen Ring eingelassen war. »Was ist denn unter dem Deckel?«, fragte Lea.
»Der Weg zum Himmelsspitz«, antwortete der Junge und begann am Ring zu ziehen. Als der Deckel sich öffnete, klaffte ein tiefes, dunkles Loch vor Lea. Ein eisiger Lufthauch wehte ihr ins Gesicht.
»Meine Kleine«, flüsterte eine Stimme, »hörst du mich? Es ist Zeit. Wir gehen fort von hier. Komm, meine Kleine.«
Lea spürte, wie Hände sie rüttelten. »Komm, komm.« Dann fuhren zarte Finger über ihr Gesicht, langsam von der Stirn über die Wange, über die Augen und wieder zur Stirn, immer wieder, immer wieder, warme, weiche Hände. Sie verwischten die Erinnerungen, so lange, bis es irgendwann verschwand, das tiefe, schwarze, unheimliche Loch, vor dem sie gestanden hatte.
Langsam öffnete Lea ihre Augen. »Meine Kleine, du hast so fest geschlafen, ich konnte dich kaum wecken«, sagte ihre Mutter. Sie saß am Bettrand und trug ihr feines Seidenkostüm. »Hast du denn was Schönes geträumt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete das Kind.
»Na gut, meine Kleine,
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