Himmelsspitz
all die Jahre beim besten Willen nicht hatte finden können. Einen kurzen Moment zögerte er noch, bevor er das Stemmeisen in den Türschlitz steckte. Dann drückte er mit voller Kraft zu, bis das Holz krachend nachgab und die Tür aufsprang. Ein Gemisch von Leder, Loden, Filz, Wolle und Schweiß strömte ihm entgegen. Er überlegte, welche von all diesen Kleidungsstücken er brauchen könnte, vor allem aber, welche für immer im Grab verschwinden würden, weil der Tote sie tragen sollte. Hoffentlich nicht der Festtagsjanker mit den Silberknöpfen!
Auf diesen hatte Vinzenz von jeher sein Augenmerk gelegt, auch damals schon, als er Agnes zum ersten Mal zum Tanz aufgefordert hatte. Geglitzert hatten sie, die Silberknöpfe des Kraxners.
Wie lang war das her, und wie anders war alles gekommen. Hätte Vinzenz geahnt, wie sein Leben hier auf dem Kraxnerhof verlaufen würde, hätte er an diesem Tag das Weite gesucht. Bis ins andere Tal wäre er gerannt, anstatt Agnes zum Tanz aufzufordern. Was hatte ihm ihre Schönheit genutzt, war doch bereits die Hochzeitsnacht ein Scheitern seiner Liebesmühe gewesen. Steif und stumm hatte sie dagelegen, die Schöne, ohne Stöhnen, ohne Zärtlichkeit ihren Körper zur Verfügung gestellt, auf dass irgendwann Ruhe sein möge. Doch hatte der Erguss seines Samens nie sein Ziel erreicht, denn in Agnes’ Leib wirkte bereits der Samen eines anderen. Lange hatte Vinzenz darüber sinniert, die Monate rauf und runter gerechnet, was ihm nicht leicht fiel, denn seine Angst führte ihn zunächst dazu, dass er sich selbst betrog. Doch je mehr Tobi heranwuchs, desto mehr entfernten sich die ohnehin schon wenigen Merkmale, die eine Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn hätten ausmachen können. Des Kindes Teint war dunkler als der seine, die Züge ebenmäßiger, die Zähne gerader gestellt, nicht so kreuz und quer, wie sie in Vinzenz’ Mund standen, die Haare dicht und gelockt, nicht dünn und spärlich wie die auf seinem Kopf.
Einmal war der zweifelnde Vater zur Cilli gegangen und hatte die innigste Vertraute seiner Frau inständig gebeten, ihm die Wahrheit zu sagen, wer der wirkliche Vater des Kindes sein könnte. Wie viel Überwindung hatte ihn die Offenbarung seiner Zweifel gekostet. Doch die Stumme hatte geschwiegen.
Was anderes war ihm übriggeblieben, als sich schließlich seinem Schicksal zu ergeben, Arglosigkeit vorzugeben und halbwegs väterliche Fürsorge walten zu lassen, stets den stolzen Hof im Visier.
Und nun endlich war der Zeitpunkt gekommen. Der Kraxnerhof war sein!
Vinzenz nahm den Janker des Verblichenen aus dem Schrank und zog ihn über. Etwas zu groß, die Ärmel müssten gekürzt werden, dachte er, während er sich stolz im Spiegel betrachtete. Außerdem galt es, den fehlenden Silberknopf zu ersetzen, der seit Urbans Unglückstag verschwunden war. Ja, einen neuen Taler würde er sich leisten, Geld würde der ehemals mittellose Flachsbauernbub ja demnächst genug haben, denn Agnes kam als taugliche und ehrwürdige Erbin nicht mehr in Frage, das konnte wohl ein jeder verstehen. Eine Frau, in der immer mehr Dämonen hausten, die ihr Unsinn einflüsterten, konnte keine Bäuerin werden. Sie würde alles verwahrlosen lassen, wie sich selbst auch. Vinzenz blickte kurz auf das Hochzeitsfoto, das auf der Kommode stand. Wie atemberaubend seine Frau ausgesehen hatte, wie glücklich er! Und nun? Agnes war heruntergekommen, ungekämmte, zottelige Haare, und ihre einst so weiche Haut hatte sich gefaltet. Ja, seine Frau war ausgedörrt, ausgehöhlt wie ein fauler Baumstamm. Vinzenz packte das Bild und warf es auf den Boden, dass das Glas splitterte und der Rahmen auseinanderbrach. Das Häufchen zerborstenen Glücks stieß er mit dem Fuß unter das Ehebett, in dem schon lange, sehr lange, nicht mehr geliebt worden war.
In diesem Moment klangen wieder Glockentöne durch den Ort. Ist schon so weit, dachte Vinzenz, bald kommens, die Trauernden. Und wenn das vorüber ist, der Alte unten im Tal begraben liegt, dann ist er mein, der Hof. Mein, mein!
»Vinzenz«, sagte Agnes leise, die plötzlich wie ein Schatten hinter ihm stand. »Zieh den Janker aus, zieh ihn aus und gib ihn mir. Ich brauch ihn zum Totenpacken.«
Vinzenz blieb der Mund offen stehen. Sein verrücktes Weib!
Sie hatte ihre Haare gewaschen und zu einem sorgfältigen Kranz gebunden. Außerdem trug sie ihr schönstes Dirndl, das, wenngleich es an ihrem dünnen Leib etwas groß aussah, ihr immer noch vortrefflich stand. »Was
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