Himmlische Wunder
auf deiner linken Schulter ein Rattentattoo hast, bei dem ich immer so getan habe, als würde ich es nicht mögen? Weil deine Haare die gleiche Farbe haben wie frische Paprika und wie rotgoldene Ringelblumen und weil Rosettes kleine Zeichnungen mich so stark an die Sachen erinnern, die du aus Holz und Stein machst, dass es mir manchmal richtig wehtut, sie anzusehen, weil ich dann denken muss, dass sie dich nie richtig kennen wird?
Wenn ich ihn küsse, wird alles nur noch schlimmer, dachte ich. Und schon küsste ich ihn, ich hauchte kleine Küsse überall auf sein Gesicht. Ich zog seine Mütze weg und schüttelte meinen Mantel ab und suchte mit glühender Hingabe seinen Mund.
Die ersten Minuten war ich blind, ich konnte nichts sehen, nichts denken. Es gab nur noch meinen Mund. Nur noch meine Hände auf seiner Haut. Sonst war ich imaginär, ein Phantom, ich wurde erst unter seiner Berührung wieder lebendig, nach und nach, wie schmelzender Schnee. In Trance versunken, küssten wir uns, während wir in diesem leeren Zimmer standen, eingehüllt von Ölund Holzgeruch und von den weißen Laken, die aussahen wie die Segel eines Schiffs.
Irgendwo im Hinterkopf wusste ich, dass mein Verhalten nicht dem großen Plan entsprach und dass nun alles sehr viel komplizierter werden würde. Aber ich konnte mich nicht bremsen. So lange hatte ich gewartet! Und jetzt …
Ich erstarrte. Und was jetzt? Sind wir wieder zusammen? Was hat das zu bedeuten? Hilft es Anouk und Rosette? Vertreibt es die Wohlwollenden? Wird unsere Liebe auch nur eine einzige Mahlzeit auf den Tisch bringen, wird sie den Wind besänftigen?
Besser, du hättest weitergeschlafen, Vianne , sagte die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Und wenn er dir wichtig ist …
»Deshalb bin ich nicht gekommen, Roux.« Mit aller Kraft stieß ich ihn weg. Er versuchte gar nicht, mich festzuhalten, sondern guckte nur zu, wie ich den Mantel anzog und mit zitternden Händen meine Haare wieder in Ordnung brachte.
»Warum bist du überhaupt noch hier?«, fragte ich ihn heftig. »Warum bist du in Paris geblieben, trotz allem?«
»Du hast nicht gesagt, dass ich gehen soll«, erwiderte er. »Außerdem wollte ich herausfinden, wie das mit Thierry ist. Ich musste mich vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte ich. »Mir geht es gut. Du hast die Chocolaterie doch gesehen.«
Roux grinste. »Wieso bist du dann jetzt hier?«
Im Laufe der Jahre habe ich das Lügen gelernt. Ich habe Anoukangelogen, ich habe Thierry angelogen, und jetzt muss ich Roux anlügen. Wenn schon nicht seinetwegen, dann meinetwegen – weil ich weiß, wenn noch mehr von meiner schlafenden Seite aufgeweckt wird, dann sind mir Thierrys Umarmungen nicht nur unwillkommen, nein, dann werden sie mir absolut unerträglich, und dann sind alle meine Pläne der vergangenen vier Jahre null und nichtig und werden davongetragen wie Blätter im Wind.
Ich schaute ihn an. »Aber jetzt sage ich es dir: Ich möchte, dass du gehst. Es ist nicht fair dir gegenüber. Du wartest auf etwas, was unmöglich passieren kann, und ich möchte nicht, dass du leidest.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, äffte er mich nach. »Mir geht es gut.«
»Bitte, Roux!«
»Du hast gesagt, du liebst ihn. Aber gerade hast du bewiesen, dass es nicht stimmt.«
»So einfach ist das nicht –«
»Warum nicht? Wegen des Ladens? Du wärst bereit, ihn wegen eines Pralinengeschäfts zu heiraten?«
»So wie du das sagst, klingt es lächerlich, das stimmt. Aber wo warst du vor vier Jahren? Und wie kommst du auf die Idee, du könntest jetzt auf einmal zurückkommen – und nichts hat sich verändert?«
»Du hast dich nicht so besonders verändert, Vianne.« Er berührte mein Gesicht. Die prickelnde Spannung zwischen uns war verschwunden, an ihre Stelle war ein dumpfer, süßer Schmerz getreten. »Und wenn du glaubst, dass ich jetzt gehe –«
»Ich muss an meine Kinder denken, Roux. Es geht nicht nur um mich.« Ich nahm seine Hand und drückte sie fest. »Wenn die Situation hier irgendetwas beweist, dann das: Ich kann nicht mehr allein sein mit dir. Ich traue mir selbst nicht über den Weg. Ich fühle mich nicht sicher.«
»Ist Sicherheit denn so furchtbar wichtig?«
»Wenn du Kinder hättest, dann wüsstest du das.«
Na ja, das war die größte Lüge überhaupt. Aber ich musste es sagen.Er muss gehen. Meinem Seelenfrieden zuliebe. Wegen Anouk, wegen Rosette. Sie waren beide mit Zozie im Laden, als ich
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