Himmlische Wunder
zurückkam. Anouk erzählte laut und begeistert aus der Schule. Ich war froh, dass ich allein sein konnte. Ich ging eine halbe Stunde in mein Zimmer, um noch mal die Karten meiner Mutter zu legen und um meine gereizten Nerven zu beruhigen.
Der Magus. Der Turm. Der Erhängte. Der Narr .
Der Tod. Die Liebenden. Die Veränderung .
Veränderung. Auf der Karte ist ein Rad zu sehen, das sich unerbittlich immer weiter dreht. Päpste und Bettler, Untertanen und Könige klammern sich verzweifelt an die Speichen, und trotz der primitiven Darstellung kann ich ihren Gesichtsausdruck sehen, die aufgerissenen Münder, das behäbige Lächeln, das sich in jämmerliches Geheul verwandelt, während das Rad sich dreht.
Ich betrachte die Liebenden. Adam und Eva: Nackt stehen sie da, Hand in Hand. Evas Haare sind schwarz, Adams Haare rot. Dahinter verbirgt sich kein großes Geheimnis. Die Karten sind nur mit drei Farben gedruckt: Gelb, Rot und Schwarz, was, zusammen mit der Hintergrundfarbe Weiß, die Farben der vier Winde ergibt.
Warum habe ich wieder diese Karten gezogen?
Welche Botschaft enthalten sie?
Um sechs rief Thierry an, um mich zum Abendessen einzuladen. Ich sagte, ich hätte Migräne, was zu diesem Zeitpunkt schon fast stimmt, in meinem Kopf pochte es wie ein Eiterzahn, und bei der Vorstellung, etwas zu essen, wurde mir übel. Ich versprach, mich morgen mit ihm zu treffen, und gab mir alle Mühe, Roux aus meinen Gedanken zu vertreiben. Aber jedes Mal, wenn ich einzuschlafen versuchte, spürte ich seine Lippen auf meinem Gesicht, und als Rosette aufwachte und zu weinen begann, hörte ich in ihrem Weinen seine Stimme und sah seinen Schatten in ihren graugrünen Augen …
5
F REITAG , 14 . D EZEMBER
Noch zehn Tage bis Heiligabend. Zehn Tage bis zu dem großen Ereignis, und obwohl ich dachte, dass alles ganz einfach ist, stellt sich jetzt heraus, dass es ziemlich kompliziert wird.
Erstens ist da Thierry. Und dann ist da Roux.
O Mann. Was für ein Chaos.
Seit ich am Sonntag mit Zozie geredet habe, überlege ich mir dauernd, was das Beste wäre. Mein erster Impuls war, sofort zu Roux zu rennen und ihm alles zu sagen, aber Zozie meint, das wäre ein Fehler.
In einer Geschichte wäre die Sache natürlich ganz simpel. Ich würde Roux sagen, dass er Rosettes Vater ist, ich wäre Thierry los, dann könnte alles wieder so sein wie früher, und wir würden alle miteinander Weihnachten feiern. Ende gut, alles gut. Ein Kinderspiel.
Im wirklichen Leben läuft es aber nicht so glatt. Im wirklichen Leben, sagt Zozie, können manche Männer nicht gut damit umgehen, dass sie Väter sind. Vor allem bei einem Kind wie Rosette – was ist, wenn ihn das überfordert? Wenn er sich ihretwegen schämt?
Ich habe heute Nacht kaum geschlafen. Seit ich Roux auf dem Friedhof entdeckt habe, frage ich mich, ob Zozie recht hat. Will er uns wirklich nicht sehen? Aber wieso sollte er dann weiter für Thierry arbeiten? Weiß er Bescheid? Oder doch nicht? Ich habe die Gedanken in meinem Kopf hin und her gedreht, aber irgendwie komme ich zu keinem Schluss. Also habe ich mir heute ein Herz gefasst und bin zu ihm in die Rue de la Croix gefahren.
Um halb vier stand ich vor dem Haus. Ich war ganz aufgeregt undzitterte innerlich. Die letzte Schulstunde hatte ich geschwänzt – es war eine Stillarbeit, und wenn jemand mich morgen fragen sollte, sage ich einfach, dass ich in der Bibliothek war. Jean-Loup hätte gewusst, wo ich bin, aber er war heute wieder krank. Ich malte mir das Affen-Symbol auf die Handfläche und verschwand, ohne dass jemand es merkte.
Ich fuhr mit dem Bus zur Place de Clichy und ging von dort zu Fuß zur Rue de la Croix, eine breite, ruhige Straße, mit Blick zum Friedhof; auf der einen Seite sind lauter große alte Häuser mit Stuckfassaden, die aussehen wie aufgereihte Hochzeitskuchen, und auf der anderen Seite befindet sich eine hohe Backsteinmauer.
Thierrys Wohnung ist im obersten Stock. Ihm gehört das ganze Gebäude, zwei Stockwerke und die Erdgeschosswohnung. Es ist die gigantischste Wohnung, die ich je gesehen habe, aber Thierry findet sie nicht groß genug und beschwert sich darüber, dass die Zimmer zu klein sind.
Als ich hinkam, war niemand zu sehen. Auf einer Seite des Hauses ist ein Gerüst angebracht, und über den Türen hängen Plastikplanen. Ein Mann mit einem Schutzhelm saß draußen und rauchte, aber ich wusste gleich, dass es nicht Roux war.
Ich ging hinein und die Treppe hinauf. Schon im ersten Stock
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