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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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nicht –
    »Komm schon, wir sind spät dran«, sagte Jean-Loup.
    Und dann rannten wir zum Bus und fuhren wie immer zum Friedhof, um die Katzen zu füttern und um die Wege unter den Bäumen entlangzuschlendern, mit den braunen Blättern, die durch die Luft segelten, und mit den Geistern überall.
    Es wurde schon dunkel, als wir hinkamen, und die Grabsteine zeichneten sich nur noch als düstere Konturen gegen den Himmel ab. Nicht besonders gut zum Fotografieren – es sei denn, man verwendet Blitzlicht, was Jean-Loup immer als »lasch« bezeichnet –, aber es war geheimnisvoll und superschön mit der Weihnachtsbeleuchtung weiter oben in der Butte , die an ein Spinnennetz aus Sternen erinnerte.
    »Die meisten Leute sehen das alles gar nicht.«
    Er machte Bilder vom Himmel, gelb und grau, und von den Gräbern davor, die an Wracks in einer verlassenen Bootswerft erinnerten.
    »Deshalb gefällt mir diese Tageszeit«, erklärte er. »Wenn es beinahe dunkel ist und die Leute alle nach Hause gegangen sind, dann kann man richtig sehen, dass es ein Friedhof ist und nicht nur ein Park mit berühmten Personen.«
    »Die Tore werden bald geschlossen«, sagte ich.
    Das machen sie, damit die Obdachlosen hier nicht übernachten. Es gibt aber welche, die tun es trotzdem. Sie klettern über die Mauer, oder sie verstecken sich irgendwo, damit der Wachmann sie nicht erwischt.
    Zuerst dachte ich, er ist einer von ihnen, ein Obdachloser, der sich gerade einen Schlafplatz einrichtet, eine Schattengestalt hinter den Grabsteinen, in einem dicken Mantel und mit einer Wollmütze auf dem Kopf. Ich fasste Jean-Loup am Arm. Er nickte mir zu.
    »Wir müssen hier weg.«
    Eigentlich hatte ich keine Angst. Ich glaube nämlich nicht, dass von einem Stadtstreicher mehr Gefahr ausgeht als von jemandem mit einem Haus. Aber niemand wusste, wo wir waren, es war schon dunkel, und Jean-Loups Mutter bekam garantiert einen Anfall, wenn sie erfuhr, wo ihr Sohn sich abends herumtrieb.
    Sie denkt nämlich, er ist im Schachklub.
    Ich glaube, sie kennt ihn gar nicht richtig.
    Aber, egal. Wir wollten sofort weglaufen, falls der Mann sich irgendwie in unsere Richtung bewegte. Dann drehte er sich um, und ich sah sein Gesicht –
    Roux?
    Aber bevor ich seinen Namen rufen konnte, war er zwischen den Grabsteinen verschwunden, behände wie eine Friedhofskatze und lautlos wie ein Geist.

4

    D ONNERSTAG , 13 . D EZEMBER
    Madame Luzeron kam heute in den Laden und brachte ein paar Sachen für das Adventsfenster mit. Spielzeugmöbel aus ihrem alten Puppenhaus, sorgfältig in mit dünnem Papier ausgelegten Schuhkartons verpackt: ein Himmelbett mit bestickten Vorhängen, einen Esstisch mit sechs Stühlen, außerdem Lampen, Teppiche, einen winzigen Spiegel mit Goldrahmen und mehrere Püppchen mit Porzellangesichtern.
    »Ich kann das nicht annehmen«, sagte ich, als sie alles auf die Theke stellte. »Es sind wertvolle Antiquitäten.«
    »Ach, es sind doch nur Spielsachen, und Sie können sie so lange behalten, wie Sie möchten.«
    Also habe ich die Möbel in das Haus gestellt, bei dem heute wieder eine Tür geöffnet wurde. Es ist eine rührende Szene: Ein kleines Mädchen mit roten Haaren (eine von Anouks Klammerpuppen) steht da und bewundert einen riesigen Stapel mit Streichholzheftchen, jedes einzelne bunt verpackt und mit einer winzigen Schleife versehen.
    Klar, bald ist Rosettes Geburtstag. Das Fest, das Anouk so detailliert plant, soll einerseits dazu dienen, dass wir diesen Geburtstag endlich einmal feiern, und andererseits ist es, glaube ich, ein Versuch, eine (möglicherweise nur imaginäre) Zeit wieder zum Leben zu erwecken, als das Julfest mehr bedeutete als nur Lametta und Geschenke und das wirkliche Leben mehr Ähnlichkeit mit den intimen kleinen Szenen rund um das Adventshaus hatte als die spektakuläre, billige Realität in den Straßen von Paris.
    Kinder sind so sentimental. Ich habe mich bemüht, Anouks Erwartungen herunterzuschrauben, ihr zu erklären, dass ein Fest nur ein Fest ist und dass es, auch wenn es noch so schön geplant ist, weder die Vergangenheit zurückbringt noch die Gegenwart verändert. Und dass man sich auch nicht darauf verlassen kann, dass es schneit.
    Aber alle meine vorsichtigen Warnungen prallten an Anouk ab. Außerdem bespricht sie alle Partyfragen jetzt mit Zozie und nicht mehr mit mir. Mir fällt auf, dass sie überhaupt den größten Teil ihrer Freizeit bei Zozie verbringt, seit sie hier wohnt. Sie probiert ihre Schuhe an (ich

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