Himmlische Wunder
OVEMBER
Allerheiligen
Anouk war heute wieder so unruhig. Vielleicht von dem Begräbnis gestern, vielleicht vom Wind. Er packt sie manchmal, wirbelt sie herum, lässt sie eigensinnig sein, und rücksichtslos und weinerlich und fremd. Meine kleine Fremde.
So habe ich sie immer genannt, als sie klein war und wir noch zu zweit. Kleine Fremde, als wäre sie eine Leihgabe von irgendwoher, und eines Tages würden sie kommen und sie wieder abholen. Das war schon immer so bei ihr, sie hatte schon immer etwas anderes, diese Augen, die viel zu weit sehen können, und Gedanken, die bis ans Ende der Welt reichen.
Ein begabtes Kind , sagt ihre neue Lehrerin. Eine unglaublich lebhafte Fantasie, ein sehr differenzierter Wortschatz für ihr Alter – aber sie hat auch schon diesen Blick, diesen geringschätzigen Blick, als wäre eine lebhafte Fantasie an sich schon verdächtig, vielleicht ein Hinweis auf eine dunklere Wahrheit.
Es ist meine Schuld, das weiß ich. Früher fand ich es ganz natürlich, Anouk nach den Glaubensregeln meiner Mutter zu erziehen. Auf diese Weise hatten wir ein gemeinsames Ziel, unsere eigene Tradition, einen Zauberkreis, in den die Welt nicht eindringen konnte. Aber wenn die Welt nicht hereinkommen kann, können wir nicht heraus. Eingesperrt in einem Kokon, den wir selbst gesponnen haben, so leben wir getrennt von den anderen, ewig fremd.
Jedenfalls bis vor vier Jahren.
Seither leben wir eine tröstliche Lüge.
Machen Sie kein so überraschtes Gesicht. Zeigen Sie mir eine Mutter, und ich zeige Ihnen eine Lügnerin. Wir sagen den Kindern, wie die Welt sein sollte – wir sagen, dass es so etwas wie Monster oder Gespenster gar nicht gibt, dass die Menschen gut zu dir sind, wenn du gut zu ihnen bist; dass die Mutter immer da ist, um dich zu beschützen. Natürlich geben wir nie zu, dass das Lügen sind. Wir meinen es gut, es ist alles nur zu ihrem Besten, aber gelogen ist es trotzdem.
Aber nach Les Laveuses hatte ich keine andere Wahl. Jede Mutter hätte so gehandelt wie ich.
»Was war das?«, fragte Anouk immer wieder. »Haben wir das gemacht, Maman?«
»Nein, es war ein Unfall.«
»Aber der Wind, du hast gesagt –«
»Mach die Augen zu und schlaf.«
»Können wir es nicht besserzaubern?«
»Nein, das können wir nicht. Es ist nur ein Spiel. Zauberei gibt es nicht, Nanou.«
Sie schaute mich mit ernsten Augen an. »Doch«, sagte sie. »Pantoufle sagt, so was gibt’s.«
»Schätzchen, Pantoufle ist auch nicht real.«
Es ist nicht leicht, die Tochter einer Hexe zu sein. Aber noch schwerer ist es, die Mutter einer Hexe zu sein. Und nach dem, was in Les Laveuses geschehen ist, stand ich vor einer schwierigen Entscheidung. Ich konnte entweder die Wahrheit sagen und dadurch meine Kinder zu einem Leben verurteilen, wie ich es immer geführt hatte. Zu einem Leben, in dem man immer von einem Ort zum andern zieht, in dem es keine Stabilität gibt und keine Sicherheit. Man lebt nur aus Koffern und rennt davon, man flieht vor dem Wind.
Oder ich konnte lügen und wie alle anderen sein.
Und deshalb habe ich gelogen. Ich habe Anouk angelogen. Ich habe zu ihr gesagt: Das ist alles nicht real. Es gibt keine Zauberei, außer im Märchen. Es gibt keine Kräfte, die man anzapfen und ausprobieren kann, keine Hausgötter, keine Hexen, keine Runen,keine Zaubersprüche, keine Totems, keine Kreise im Sand. Alles, was nicht erklärt werden kann, wird zu einem Zufall oder zu einem Unfall: unerwartete Glückstreffer, gerade noch mal gut gegangen, Geschenke der Götter. Und Pantoufle – er wurde herabgestuft auf die Ebene eines »imaginären Freundes« und wird inzwischen ganz ignoriert, obwohl ich ihn immer noch manchmal sehe, wenn auch nur aus dem Augenwinkel.
Heutzutage wende ich mich ab. Ich schließe die Augen, bis die Farben verschwunden sind.
Nach Les Laveuses habe ich das alles weggeschoben, obwohl ich wusste, dass Nanou mir vielleicht Vorwürfe macht, mich vielleicht sogar eine Weile hasst, aber ich hoffe, dass sie mich eines Tages versteht.
»Du musst erwachsen werden, Anouk. Du musst lernen zu unterscheiden, was real ist und was nicht.«
»Warum?«
»Weil es besser ist, wenn man das kann«, sagte ich. »Diese Dinge, sie trennen uns von den anderen. Sie machen uns anders. Willst du anders sein? Möchtest du nicht dazugehören? Du möchtest doch Freunde haben und –«
»Ich habe Freunde gehabt. Paul und Framboise –«
»Wir konnten nicht bleiben. Nicht nach allem, was war.«
»Und Zézette
Weitere Kostenlose Bücher