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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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und Blanche –«
    »Fahrendes Volk, Nanou. Menschen vom Fluss. Man kann nicht immer auf einem Boot leben, nicht, wenn man in die Schule gehen möchte –«
    »Und Pantoufle –«
    »Imaginäre Freunde zählen nicht, Nanou.«
    »Und Roux, Maman. Roux war unser Freund.«
    Schweigen.
    »Warum sind wir nicht bei Roux geblieben, Maman? Warum hast du ihm nicht gesagt, wo wir sind?«
    Ich seufzte. »Das ist kompliziert.«
    »Ich vermisse ihn.«
    »Ich weiß.«
    Für Roux ist immer alles einfach. Tu, was du willst. Nimm dir, was du brauchst. Gehe, wohin der Wind dich trägt. Für Roux funktioniert das. Ihn macht es glücklich. Aber ich weiß, wohin diese Straße führt. Und es wird so schwer, Nanou. Ach, so schwer.
    Roux würde jetzt sagen: Du machst dir zu viele Sorgen . Roux mit seinen widerspenstigen Haaren und dem scheuen Lächeln und seinem geliebten Boot unter den wandernden Sternen. Ich mache mir Sorgen, weil Anouk in ihrer neuen Schule keine Freunde hat. Ich mache mir Sorgen, weil Rosette fast vier ist und hellwach, aber sie spricht kein Wort, als läge auf ihr ein böser Zauber, als wäre sie eine Prinzessin, die vor lauter Angst, sie könnte etwas verraten, was sie nicht sagen darf, vollkommen verstummt.
    Wie soll ich das Roux erklären, der sich vor nichts fürchtet und sich um niemanden sorgt? Mutter zu sein heißt, in Angst zu leben. Angst vor dem Tod, Angst vor Krankheit, vor Verlust, vor Unfällen, vor Fremden, vor dem Schwarzen Mann oder einfach vor den Alltagsdingen, die uns am allermeisten verletzen können, vor dem Blick voller Ungeduld, vor dem bösen Wort, vor der verpassten Gutenachtgeschichte, vor dem vergessenen Kuss, vor dem schrecklichen Augenblick, wenn eine Mutter aufhört, in der Welt ihrer Tochter der Mittelpunkt zu sein, und zu einem Satelliten unter vielen anderen wird, der irgendeine Sonne umkreist.
    Es ist nichts passiert, jedenfalls noch nicht. Aber ich sehe es bei den anderen Kindern, bei den jungen Mädchen mit den Schmollmündern und den Handys und dem verächtlichen Blick auf die Welt im Allgemeinen. Ich habe Anouk enttäuscht. Das weiß ich. Ich bin nicht die Mutter, die sie sich wünscht. Und mit elf ist sie, auch wenn sie noch so klug ist, viel zu klein, um zu verstehen, was ich geopfert habe und warum.
    Du machst dir zu viele Sorgen .
    Ach, wenn es doch so einfach wäre.
    Es ist ganz einfach , antwortet seine Stimme in meinem Herzen.
    Früher vielleicht, Roux. Jetzt nicht mehr.
    Ich wüsste gern, ob er sich verändert hat. Und was mich betrifft – ich glaube, er würde mich gar nicht wiedererkennen. Abund zu schreibt er mir. Er hat meine Adresse von Blanche und Zézette, aber immer nur ganz kurz, an Weihnachten und zu Anouks Geburtstag. Ich schreibe ihm postlagernd an das Postamt von Lansquenet, weil ich weiß, dass er da gelegentlich vorbeikommt. Rosette habe ich in meinen Briefen noch nie erwähnt. Und Thierry genauso wenig. Thierry, meinen Vermieter, der so lieb und so großzügig ist und dessen Geduld ich unsagbar bewundere.
    Thierry Le Tresset, einundfünfzig, geschieden, Kirchgänger, Fels in der Brandung.
    Lachen Sie nicht. Ich mag ihn sehr gern.
    Ich frage mich, was er in mir sieht.
    Wenn ich in den Spiegel schaue, blickt mir nicht mein Ebenbild entgegen, sondern das langweilige Gesicht einer Frau mit Mitte dreißig. Nichts Außergewöhnliches, eine ganz normale Frau, weder besonders schön noch besonders charismatisch. Eine Frau wie alle anderen. Genau das will ich ja sein, aber heute deprimiert es mich doch. Vielleicht wegen der Beerdigung. Die triste, schlecht beleuchtete Friedhofskapelle mit den Blumen, die noch vom vorherigen Toten stammten, der leere Raum, der absurde Riesenkranz von Thierry, der unbeteiligte Pfarrer mit der Schnupfennase, die blecherne Musik (Elgars Nimrod ) aus den knisternden Lautsprechern.
    Der Tod ist banal, wie meine Mutter in den Wochen vor ihrem Tod zu sagen pflegte. Bevor sie in einer belebten Straße mitten in New York starb. Das Leben ist etwas Besonderes. Wir sind etwas Besonderes. Das Besondere anzunehmen heißt, das Leben zu feiern.
    Tja, Mutter – wie sich alles verändert! In der guten alten Zeit (na ja, so gut und alt ist sie auch nicht, sage ich mir) hätte es gestern Abend eine Feier gegeben. Am Abend vor Allerheiligen, Hallowe’en , das ist eine magische Zeit, eine Zeit der Geheimnisse und Mysterien, dazu die aus roter Seide genähten Duftsäckchen, die überall im Haus aufgehängt werden, um Unheil abzuwehren, und das

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