Himmlische Wunder
sein, braucht man mehr als einen schwarzen Mantel und einen Ehering, und Yanne Charbonneau (wenn sie wirklich so heißt) sieht für mich nicht aus wie eine Witwe. Für andere vielleicht, aber ich sehe mehr.
Warum also die Lüge? Wir sind in Paris, du meine Güte; hier werden die Leute doch nicht danach beurteilt, ob sie einen Ehering tragen oder nicht. Was für ein kleines Geheimnis verbirgt sie? Lohnt es sich, dahinterzukommen?
»Es ist sicher nicht einfach, einen Laden zu führen. Vor allem hier.« Montmartre, diese merkwürdige kleine Insel aus Stein, mit ihren Touristen und Malern, den offenen Gullys und den Bettlern, den Stripklubs und den nächtlichen Messerstechereien unten in den hübschen Straßen.
Sie lächelte. »So schlimm ist es nicht.«
»Tatsächlich?«, sagte ich wieder. »Aber jetzt, nachdem Madame Poussin nicht mehr da ist –«
Sie wandte den Blick ab. »Der Hausbesitzer ist ein guter Freund. Er wirft uns nicht raus.« Ich hatte den Eindruck, dass sie rot wurde.
»Läuft das Geschäft gut?«
»Könnte schlechter sein.«
Touristen, immer auf der Suche nach überteuerten Leckereien.
»Klar, ein Vermögen werden wir hier bestimmt nie verdienen –«
Genauso habe ich es mir gedacht. Kaum der Rede wert. Sie willsich nichts anmerken lassen, aber ich sehe den billigen Rock, den ausgefransten Saum an dem warmen Mantel des Kindes, das verblasste, unleserliche Holzschild über der Tür der Chocolaterie .
Und doch besitzt das vollgestellte Schaufenster eine seltsame Anziehungskraft, mit seinen Schachteln und Dosen, mit den Hallowe’en -Hexen aus dunkler Schokolade und bunten Strohhalmen, mit den kugeligen Marzipankürbissen und den Totenköpfen aus Ahornzucker, die man unter der halb geschlossenen Jalousie gerade noch ahnen kann.
Außerdem ist da dieser Geruch – ein rauchiger Geruch aus Apfel und karamellisiertem Zucker, aus Vanille, Rum, Kardamom und Kakao. Ich mag Schokolade eigentlich nicht so besonders, doch da läuft selbst mir das Wasser im Mund zusammen.
Nimm mich. Iss mich .
Mit den Fingern machte ich das Zeichen des Rauchenden Spiegels – auch als Auge des schwarzen Tezcatlipoca bekannt –, und das Schaufenster schien kurz aufzuleuchten.
Mit einem gewissen Unbehagen schien die Frau das Leuchten zu bemerken, und das Kind auf ihrem Arm maunzte leise lachend und streckte die Hand aus –
Eigenartig, dachte ich.
»Machen Sie die Pralinen selbst?«, fragte ich.
»Früher, ja, da habe ich alles selbst gemacht. Aber jetzt nicht mehr.«
»Es ist bestimmt nicht leicht.«
»Ich schaff das schon«, sagte sie.
Hm. Interessant.
Aber schafft sie es wirklich? Vor allem jetzt, da die alte Frau gestorben ist? Irgendwie habe ich meine Zweifel. Klar, sie wirkt kompetent und energisch, mit ihrem trotzigen Mund und dem festen Blick. Aber in ihrem Inneren lauert eine Schwäche, eine Müdigkeit, trotz allem. Eine Schwäche – oder vielleicht eine Stärke?
Man muss stark sein, um so zu leben wie sie. Um in Paris zwei Kinder allein großzuziehen, um ständig in einem Laden zu arbeiten, der ihr, wenn sie Glück hat, gerade genug Geld für die Mieteeinbringt. Aber ihre Schwäche – diese Schwäche ist etwas anderes. Zum Beispiel dieses Kind. Sie hat Angst um die Kleine. Angst um beide Kinder, sie klammert sich an sie, als könnte der Wind sie wegpusten.
Ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie denken: Was geht mich das an?
Tja, von mir aus können Sie sagen, ich sei zu neugierig. Aber ich lebe schließlich von Geheimnissen. Von Geheimnissen, von Verrat, von Diebstahl im kleinen und großen Maßstab, von Lügen, Halbwahrheiten, Verdrehungen, verborgenen Untiefen, stillen Wassern, Mänteln und Degen, Geheimtüren, verstohlenen Begegnungen, Nischen und Ecken, verdeckten Operationen und unberechtigtem Besitz, von Informationen und mehr.
Ist das so falsch? So schlecht?
Wahrscheinlich schon.
Aber Yanne Charbonneau (oder Vianne Rocher) versteckt etwas vor der Welt. Ich rieche die Heimlichtuerei an ihr, wie die Feuerwerkskörper an einer Piñata . Ein gut gezielter Stein wird die Geheimnisse aufdecken, und dann werden wir wissen, ob es Geheimnisse sind, mit denen jemand wie ich etwas anfangen kann.
Ich will es herausfinden, das ist alles. Neugier charakterisiert alle, die das Glück haben, im Zeichen von Eins-Jaguar geboren zu sein. Außerdem lügt sie, stimmt’s? Und wenn es etwas gibt, was wir Jaguare noch mehr hassen als Schwäche, dann sind das Lügen.
5
D ONNERSTAG , 1 . N
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