Himmlische Wunder
praktisch wie eine Stadt.
Meine Schule in Lansquenet hatte vierzig Schüler. Hier sind es achthundert Mädchen und Jungen, samt Schultaschen, iPods, Handys, Deos, Schulbüchern, Lipgloss, Computerspielen, Geheimnissen, Tratsch und Lügen. Ich habe nur eine einzige Freundin hier, na ja, fast eine Freundin. Suzanne Prudhomme, die auf der Friedhofseite der Rue Ganneron wohnt und die manchmal zu uns in die Chocolaterie kommt.
Suzanne – sie will, dass man sie Suze nennt, wie den Aperitif – hat rote Haare, die sie hasst, und ein rundes rosarotes Gesicht, und sie fängt immer gerade eine neue Diät an. Mir gefallen ihre Haare, weil sie mich an meinen Freund Roux erinnern, und ich finde Suze überhaupt nicht dick, aber sie beschwert sich dauernd. Wir waren früher richtig gute Freundinnen, doch in letzter Zeit ist sie oft launisch und sagt ganz gemeine Dinge, ohne jeden Grund, oder sie redet gar nicht mehr mit mir, weil ich nicht genau das mache, was sie will.
Heute hat sie mich wieder mal geschnitten. Weil ich gestern Abend nicht mit ihr ins Kino gegangen bin. Aber schon der Eintrittist so teuer, und dann muss man auch noch Popcorn und eine Cola holen. Wenn ich mir nichts kaufe, merkt Suzanne das natürlich und macht sich später in der Schule über mich lustig, weil ich nie genug Geld habe, außerdem wusste ich, dass Chantal auch mitkommt, und Suzanne ist total anders, wenn Chantal dabei ist.
Chantal ist Suzannes neue beste Freundin. Sie hat immer Geld, und ihre Haare sind jeden Tag perfekt frisiert. Sie trägt ein Kreuz mit Diamanten, und als die Lehrerin in der Schule einmal zu ihr sagte, sie soll es abnehmen, schrieb Chantals Vater einen Leserbrief an die Zeitung, in dem stand, es sei eine Schande, dass seine Tochter angegriffen wird, weil sie das Symbol des katholischen Glaubens trägt, während muslimische Mädchen immer noch ihre Kopftücher tragen dürfen. Das hat ziemlich viel Wirbel gemacht, und danach wurden sowohl Kreuze als auch Kopftücher in der Schule verboten. Aber Chantal hat ihr Kreuz immer noch um. Ich weiß es, weil ich es im Turnen gesehen habe. Die Lehrerin tut so, als würde sie es nicht merken. So tyrannisiert Chantals Vater die Leute.
Ignorier sie einfach , sagt Maman. Du kannst dich doch mit anderen Mädchen anfreunden .
Als hätte ich das nicht versucht! Aber immer, wenn ich eine neue Freundin gefunden habe, kommt Suze und zieht sie auf ihre Seite. Das ist schon so oft passiert. Man kann es nicht genau beschreiben, aber es ist die ganze Zeit da, wie ein Parfümgeruch in der Luft. Und plötzlich gehen dir alle, die du für Freundinnen gehalten hast, aus dem Weg und sind mit Suze zusammen, und ehe du dich’s versiehst, sind sie ihre Freundinnen und nicht mehr deine, und du bist allein.
Also gut – Suze hat den ganzen Tag nicht mit mir geredet und saß im Unterricht immer neben Chantal und stellte ihre Tasche auf den anderen Stuhl neben ihr, damit ich mich nicht zu ihnen setzen konnte, und jedes Mal, wenn ich mich zu ihnen umdrehte, schienen sie über mich zu kichern.
Mir ist das völlig egal. Wer will schon wie die beiden sein?
Aber dann sehe ich, wie sie die Köpfe zusammenstecken, und an der Art, wie sie mich ganz betont nicht anschauen, merke ich, dasssie wieder über mich lachen. Warum? Was habe ich denn? Früher wusste ich wenigstens immer, was mich anders macht. Aber jetzt?
Liegt es an meinen Haaren? Liegt es daran, dass wir nie bei Galeries Lafayette einkaufen? Ist es, weil wir nie zum Skifahren nach Val d’Isère reisen und im Sommer auch nicht nach Cannes? Habe ich irgendein Etikett, so wie ein billiges Paar Turnschuhe, das sie warnt und ihnen zeigt, dass ich zweite Wahl bin?
Maman gibt sich solche Mühe, mir zu helfen. Nichts an mir ist anders, man merkt mir nicht an, dass wir kein Geld haben. Ich habe die gleichen Klamotten wie alle anderen auch. Ich habe die gleiche Schultasche wie sie. Ich sehe die richtigen Filme, lese die richtigen Bücher, höre die richtige Musik. Ich müsste eigentlich dazugehören. Aber irgendwie klappt es trotzdem nicht.
Das Problem bin ich. Ich passe einfach nicht zu ihnen. Ich habe irgendwie die falsche Form, die falsche Farbe. Ich mag die falschen Bücher. Ich sehe mir heimlich die falschen Filme an. Ich bin anders, ob es ihnen passt oder nicht, und ich sehe nicht ein, weshalb ich mich verstellen soll.
Aber es ist schwierig, wenn alle anderen Freundinnen und Freunde haben. Und es ist furchtbar, wenn einen die Leute nur mögen, wenn man
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