Himmlische Wunder
(Handschuhe mag sie aus irgendeinem Grund überhaupt nicht), und dann fuhren wir alle mit der Metro zu den Jardins du Luxembourg.
Es ist so komisch, hier immer noch Touristin zu sein – in meiner Geburtsstadt. Aber Thierry denkt, ich bin nicht von hier, und es macht ihm solches Vergnügen, mir seine Welt zu zeigen, dass ichihn nicht enttäuschen kann. Im Park ist es kühl, die Luft ist klar, das Sonnenlicht wirft kaleidoskopartige Muster durch das Herbstlaub. Rosette liebt die bunten Blätter, kickt sie hoch, so dass wirbelnde Farbbogen entstehen. Und sie liebt den kleinen See, beobachtet die Spielzeugboote mit entzücktem Ernst.
»Sag Boot, Rosette.«
»Bam«, sagt sie und mustert ihn mit ihrem Katzenblick.
»Nein, Rosette – Boot«, sagt er. »Komm schon, du kannst doch Boot sagen.«
»Bam«, sagt Rosette und macht mit der Hand das Zeichen für Affe .
»Das reicht.« Ich lächle ihr zu, aber mein Herz schlägt viel zu schnell. Sie ist heute die ganze Zeit schon so lieb, rennt in ihrem limonengrünen Anorak und ihrer roten Mütze herum wie ein wild gewordener Christbaumschmuck, und zwischendurch ruft sie immer wieder – Bam-bam-bam –, als würde sie irgendwelche unsichtbaren Feinde abknallen. Sie lacht immer noch nicht (das tut sie sowieso selten), sondern wirkt hochkonzentriert, schiebt die Lippen vor, zieht die Brauen zusammen, als wäre schon das Herumrennen eine Herausforderung, die man nicht zu leicht nehmen darf.
Aber jetzt liegt Gefahr in der Luft. Der Wind hat gedreht, aus dem Augenwinkel sehe ich ein Goldglitzern und denke sofort: Es ist Zeit.
»Nur ein Eis«, sagt Thierry.
Das Boot macht eine tollkühne Drehung im Wasser, neunzig Grad nach Steuerbord, und fährt jetzt zur Mitte des Sees. Rosette wirft mir einen verschmitzten Blick zu.
»Nein, Rosette.«
Das Boot dreht wieder und deutet jetzt auf den Eiskiosk.
»Na gut, aber nur eins.«
Wir küssten uns, während Rosette am Seeufer ihr Eis aß. Thierry war warm und roch ein bisschen nach Tabak, wie Väter es tun, und sein Kaschmirarm legte sich bärig um mein viel zu dünnes rotes Kleid und meinen Herbstmantel.
Es waren gute Küsse, die bei meinen kalten Fingern begannen und sehr clever und ernsthaft den Weg zu meiner Kehle und schließlich zu meinem Mund fanden. Sie tauten auf, was der Wind hatte erfrieren lassen, nach und nach, wie ein warmes Feuer, und immer wieder sagte er: Ich liebe dich, ich liebe dich (das sagt er oft), aber er flüsterte es nur, wie ein Ave-Maria, viel zu hastig vorgetragen von einem Kind, das unbedingt die Absolution möchte.
Thierry musste irgendetwas auf meinem Gesicht gesehen haben. »Was ist los?«, fragte er, wieder ganz ernst.
Wie soll ich es ihm sagen? Wie kann ich es erklären? Er musterte mich plötzlich sehr aufmerksam, und seine blauen Augen tränten von der Kälte. Er wirkte so arglos und aufrichtig, so normal, denn trotz aller geschäftlichen Gerissenheit ist er vollkommen unfähig, unsere Art von Täuschung zu verstehen.
Was sieht er in Yanne Charbonneau? Ich versuche schon die ganze Zeit, das irgendwie zu verstehen. Und was würde er in Vianne Rocher sehen? Würde er ihrer unkonventionellen Art misstrauen? Würde er sich lustig machen über ihre Denkweise? Ihre Entscheidungen verurteilen? Würde es ihn vielleicht erschrecken, dass sie gelogen hat?
Langsam küsste er meine Fingerspitzen, führte meine Finger an die Lippen, einen nach dem anderen. Er grinste. »Du schmeckst nach Schokolade.«
Aber der Wind sauste immer noch in meinen Ohren, und das Rauschen der Bäume um uns herum verstärkte dieses Wehen, es klang wie ein Ozean, wie ein Monsun, der Wind pustete die toten Blätter himmelwärts wie Konfetti, und da war der Geruch jenes Flusses, jenes Winters, jenes Windes.
In dem Moment schoss mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf –
Was, wenn ich Thierry die Wahrheit sage? Soll ich ihm einfach alles erzählen?
Die Chance, erkannt zu werden, geliebt zu werden, verstanden zu werden. Mir stockte der Atem.
Ach, wenn ich es doch wagen könnte …
Der Wind stellt seltsame Dinge mit den Menschen an, er wirbelt sie herum, er bringt sie zum Tanzen. Gerade jetzt verwandelte er Thierry wieder in einen kleinen Jungen mit zerzausten Haaren und leuchtenden Augen, voller Hoffnung. Der Wind kann sehr verführerisch sein, er weckt wilde Gedanken und noch wildere Träume. Aber ich konnte trotzdem die ganze Zeit die Warnung hören, auch in diesem Augenblick wusste ich, dass Thierry Le Tresset,
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