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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Fähigkeit, sie noch umfassender zu manipulieren; so kann ich, wenn ich will, genau das werden, was andere von mir erwarten, ich kann Glanz auf mich und andere werfen und die Welt nach meinem Willen verändern.
    Ich habe mich nie einer Gruppe angeschlossen – sehr zum Kummer meiner Mutter. Sie protestierte, sie fand es irgendwie unmoralisch, dass ich mir von so vielen minderwertigen und fehlerhaften Glaubensrichtungen nahm, was mir gefiel. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn ich mich einem netten gemischten Zirkel angeschlossen hätte – dort wäre ich mit anderen Menschen in Kontakt gekommen und hätte ungefährliche junge Männer kennengelernt. Oder ich hätte mich ihrer aquatischen Denkschule anschließen und wie sie den Delfinen folgen sollen.
    »Aber woran glaubst du eigentlich?«, fragte sie mich immer wieder und tastete mit langen, nervösen Fingern an ihrer Perlenkette herum. »Ich meine – wo ist die Seele deines Denkens, wo ist der Avatar ?«
    Ich zuckte die Achseln. »Warum muss unbedingt eine Seele dabei sein? Für mich ist wichtig, dass es funktioniert, und nicht, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können oder welcheFarbe eine Kerze für den Liebeszauber haben muss.« (Ich hatte schon längst herausgefunden, dass bei einer Verführung farbige Kerzen völlig überschätzt werden, vor allem im Vergleich zu Oralsex.)
    Meine Mutter seufzte nur, süß und lieb wie immer, und sagte wieder mal etwas in der Art, dass ich ja meinem eigenen Weg folgen müsse. Das tat ich auch, und ich tue es immer noch. Mein Weg hat mich an viele interessante Orte geführt – hierher, zum Beispiel –, aber ich habe nie Beweise dafür gefunden, dass ich nicht einmalig bin.
    Bis jetzt, vielleicht.
    Yanne Charbonneau. Das klingt viel zu harmlos, um wirklich plausibel zu sein. Und sie hat etwas in ihren Farben, das auf Täuschung hinweist – wobei ich allerdings vermute, dass sie wirksame Methoden entwickelt hat, um sich zu verstecken, so dass ich die Wahrheit nur herausfinden kann, wenn sie nicht aufpasst.
    Maman will nicht, dass wir anders sind .
    Interessant.
    Und wie hieß noch mal das Dorf? Lansquenet? Ich muss der Sache nachgehen; vielleicht liegt da ja der Schlüssel – vielleicht gab es einen Skandal, oder es ist sonst irgendetwas mit einer Mutter und einem Kind passiert, was ein Licht auf dieses schattenhafte Paar werfen würde.
    Als ich in meinem Laptop die entsprechenden Internetseiten abrief, fand ich nur zwei Verweise auf diesen Ort – beide bezogen sich auf Folklore und Festlichkeiten im Südwesten, und der Name Lansquenet-sous-Tannes fiel im Zusammenhang mit einem bekannten und beliebten Osterfest, das vor gut vier Jahren das erste Mal gefeiert wurde.
    Ein Schokoladenfest. Na, so eine Überraschung!
    Also gut. Fand sie das Dorfleben mit der Zeit langweilig? Hatte sie sich mit jemandem verfeindet? Weshalb ist sie weggegangen?
    Ihr Laden war heute Morgen ganz leer. Ich beobachtete ihn vom Le P’tit Pinson aus, und bis halb eins hatte sie keinen einzigen Kunden. Freitag! Und niemand kam, nicht der fette Mann, der ohnePause quasselt, auch nicht die Nachbarin, obwohl ich weiß, dass Madame Pinot für ihr Leben gern Pralinen isst. Nicht einmal ein Tourist im Vorübergehen.
    Was stimmt hier nicht? Der Laden müsste eigentlich brummen. Stattdessen ist er quasi unsichtbar, verkriecht sich in der Ecke. Sehr schlecht fürs Geschäft. Dabei wäre es gar nicht so schwierig, ihn ein bisschen zu vergolden, ihn aufzupeppen, damit er leuchtet wie neulich – aber sie unternimmt nichts. Wieso nicht? frage ich mich. Meine Mutter hat ihr Leben lang vergeblich versucht, etwas Besonderes zu sein. Warum bemüht sich Yanne so verzweifelt, genau das Gegenteil zu erreichen?

6

    F REITAG , 9 . N OVEMBER
    Thierry kam gegen zwölf. Natürlich hatte ich ihn erwartet, und ich hatte wieder mal eine schlaflose Nacht hinter mir, weil ich darüber nachdenken musste, wie ich mich bei unserer nächsten Begegnung verhalten soll. Ach, wenn ich doch nie die Karten gelegt hätte. Der Tod . Die Liebenden . Der Turm . Die Veränderung . Denn jetzt fühlt es sich fast schicksalhaft an, als wäre es unvermeidlich, und die Tage und Monate meines Lebens sind aufgestellt wie eine lange Reihe von Dominosteinen, die gleich umkippen werden …
    Natürlich ist es absurd. Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube, dass wir frei entscheiden können: Der Wind kann zum Schweigen gebracht werden, der Schwarze Mann kann getäuscht werden, die

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