Himmlische Wunder
Zeichen hilft mir, mich auf die Farben zu konzentrieren. Gelernt habe ich es in Mexiko, und mit ein bisschen Übung und der entsprechenden Fingerfertigkeit konnte ich sehen, wer log, wer Angst hatte, wer seine Frau betrog, wen Geldsorgen quälten.
Und nach und nach lernte ich, die Farben, die ich sah, auch zu manipulieren, mir selbst diesen rosigen Glanz zu verleihen, dieses besondere Leuchten – oder wenn Diskretion erforderlich war, dann konnte ich auch genau das Gegenteil bewirken und den Mantel der Unbedeutsamkeit um mich legen, der mir erlaubte, ungesehen durchzukommen und keine Spuren zu hinterlassen.
Bis mir allerdings klar war, dass es sich dabei um Magie handelt, das dauerte eine Weile. Wie alle Kinder hatte ich viele Märchen gehört und erwartete deswegen ein Feuerwerk, Zauberstäbe und Ritte auf dem Besenstiel. Und die reale Zauberei in den Büchern meiner Mutter schien so langweilig, so verstaubt und akademisch, mit ihren albernen Sprüchen und den aufgeplusterten alten Männern, dass sie mir überhaupt nicht magisch vorkam.
Aber meine Mutter besaß tatsächlich keinen Zauber. Trotz all ihrer Studien, trotz der Sprüche und Kerzen, trotz der Kristallkugeln und Karten – ich habe nie erlebt, dass sie auch nur einen banalen Trick hinkriegte. Bei manchen Menschen ist das eben so. Ich hatte es in ihren Farben gesehen, lange bevor ich es ihr sagte. Gewisse Personen haben einfach nicht das Talent, das man braucht, um eine Hexe zu sein.
Meine Mutter verfügte allerdings über sehr viel Wissen, auch wenn ihr die Begabung fehlte, dieses Wissen umzusetzen. Sie führte in einem Londoner Vorort einen okkulten Buchladen, in dem alle möglichen Leute aus und ein gingen. Hohe Magier, Odinisten, Wiccaner und gelegentlich auch der eine oder andere Möchtegernsatanist (alle mit schlimmer Akne, als ginge die Pubertät für sie nie zu Ende).
Von meiner Mutter – und ihren Kunden – lernte ich, was ich wissen musste. Meine Mutter glaubte, wenn sie mir die Türen zu allen möglichen Formen des Okkultismus öffnete, würde ich letztlich meinen eigenen Weg finden. Sie selbst war Anhängerin einer obskuren Sekte, die in Delfinen die erleuchteten Wesen sah und die eine Art »Erdzauber« praktizierte, der nicht nur harmlos, sondern absolut ineffektiv war.
Aber alles ist zu irgendetwas nützlich, fand ich, und im Lauf der Jahre lernte ich, wenn auch quälend langsam, die Krümel der praktischen Magie von den nutzlosen, lächerlichen Mogelpackungen zu unterscheiden. Ich entdeckte, dass Magie – wenn sie überhaupt vorhanden ist – sich meistens unter einer erstickenden Decke aus Riten, Theatralik, Fasterei und zeitaufwändigen Übungen verbirgt. Das alles dient nur dazu, eine mysteriöse Aura zu schaffen, obwohl es doch im Grunde nur darum geht, herauszufinden, was funktioniert. Meine Mutter liebte die Rituale – und ich wollte das Rezeptbuch.
Also beschäftigte ich mich mit Runen, mit Karten, Kristallkugeln, Pendeln und mit Kräuterkunde. Ich vertiefte mich in das I Ching , ich suchte mir aus dem Golden Dawn ein paar Juwelen heraus, distanzierte mich von Aleister Crowley (allerdings nicht von seinen Tarotkarten, die wirklich sehr schön sind), setzte mich intensiv mit meiner Inneren Göttin auseinander und lachte mich schief über den Liber Null und das Necronomicon .
Am intensivsten aber studierte ich die Religionen Mittelamerikas, die Kulturen der Maya und Inka und ganz besonders die der Azteken. Aus irgendeinem Grund fand ich diese immer besonders faszinierend, und von den Azteken lernte ich, was Opferbedeuten, ich erfuhr etwas über den Dualismus der Gottheiten und die Bosheit des Universums, über die Sprache der Farben und den Schrecken des Todes. Und darüber, dass man in dieser Welt nur überleben kann, wenn man sich so entschlossen und so rücksichtslos wie möglich wehrt –
Das Ergebnis war mein eigenes System, das ich in vielen Jahren des praktischen Herumprobierens bis ins Detail ausarbeitete. Die Bestandteile dieses Systems sind: eine solide Kräutermedizin (darunter verschiedene nützliche Gifte und Halluzinogene), ein paar Fingerzeichen und magische Namen, mehrere Atem- und Dehnübungen, alle möglichen stimmungsaufhellenden Tränke und Tinkturen, ein wenig Astralprojektion und Selbsthypnose, eine Handvoll Zaubersprüche (ich mag gesprochene Magie nicht besonders, aber gelegentlich tut sie gute Dienste). Dazu gehört außerdem ein besseres Verständnis der Sprache der Farben, samt der
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