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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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geschlossen«, sagte ich.
    Sie nickte.
    »Wer ist gestorben?« Der knallrote Mantel passte nicht recht zu so einem Ereignis, und auf ihrem Gesicht war keine Spur von Trauer zu sehen.
    Eine Weile schwieg Annie, aber ich sah das Glitzern in ihren blaugrauen Augen, die jetzt fast überheblich blickten, als würde sie sich überlegen, ob meine Frage indiskret war oder ob sie echtes Mitgefühl ausdrückte.
    Ich ließ sie mich anstarren. Das bin ich gewohnt. Sogar in Paris passiert das manchmal, wo es hier doch jede Menge schöne Frauen gibt. Ich sage schön – aber das ist eine Illusion, der simpelste aller Zaubertricks, hinter dem sich allerdings gar nicht besonders viel Magie verbirgt. Eine Neigung des Kopfs, ein gewisser Gang, geschickte Kleidung, die dem Anlass entspricht, und schon schafft es jede.
    Na ja, fast jede.
    Ich fixierte das Mädchen mit meinem Strahlelächeln, süß, kokett und ein klein wenig traurig. Eine Sekunde lang wurde ich die wilde ältere Schwester, die das Mädchen nie gehabt hat, die glamouröse Rebellin, die Gauloises raucht, enge Röcke trägt, am liebsten in schrillen Neonfarben, und in deren unpraktischen Schuhen sie selbst gern herumspazieren würde.
    »Willst du’s mir nicht sagen?«
    Sie schaute mich schweigend an. Ein erstgeborenes Kind, ganz typisch. Es hängt ihr zum Hals heraus, immer brav sein zu müssen, und sie ist gefährlich nah an dem Alter, in dem sie aufbegehren wird. Ihre Farben sind ungewöhnlich klar, in ihnen sehe ich einen gewissen Eigenwillen, ein bisschen Trauer, ein Hauch von Wut und eine helle Spur von irgendetwas, was ich nicht genau identifizieren konnte.
    »Komm schon, Annie. Sag’s mir. Wer ist gestorben?«
    »Meine Mutter«, antwortete sie. »Vianne Rocher.«

2

    M ITTWOCH , 31 . O KTOBER
    Vianne Rocher. Es ist lange her, dass ich den Namen hatte. Ich habe fast vergessen, wie gut er sich anfühlte, so wunderbar warm und bequem, wie ein Mantel, den man sehr mochte, aber längst abgelegt hat. Wie oft habe ich den Namen gewechselt, haben wir beide den Namen gewechselt, während wir von Dorf zu Dorf zogen, immer dem Wind folgend. Eigentlich müsste ich diesen Wunsch inzwischen überwunden haben. Vianne ist schon lange tot. Und doch …
    Ja, es war schön, Vianne Rocher zu sein. Mir gefiel es immer, wie die Leute den Mund formen, wenn sie den Namen aussprechen. Vianne , wie ein Lächeln. Wie ein Wort, das einen willkommen heißt.
    Ich habe jetzt natürlich einen neuen Namen, der sich gar nicht so stark von meinem alten unterscheidet. Ich habe ein Leben, ein besseres Leben, würden manche Leute sagen. Aber es ist nicht das gleiche. Wegen Rosette, wegen Anouk, wegen allem, was wir in Lansquenet-sous-Tannes zurückgelassen haben, an jenem Osterfest, als der Wind drehte.
    Dieser Wind. Ich sehe, dass er wieder weht. Ohne dass man es merkt, bestimmt er jede unserer Bewegungen. Meine Mutter hat ihn gespürt, und ich spüre ihn ebenfalls, selbst hier, selbst jetzt, ich spüre, wie er uns herumwirbelt, als wären wir Blätter auf dem Kopfsteinpflaster in diesem entlegenen Winkel, und tanzend zerreibt er uns.
    V’là l’bon vent, v’là l’joli vent  –
    Ich dachte, wir hätten ihn für immer zum Schweigen gebracht. Aber die kleinste Kleinigkeit kann den Wind wecken: ein Wort, ein Zeichen, sogar ein Todesfall. Nichts ist zu banal. Alles kostet etwas, es summiert sich, bis schließlich das Gleichgewicht kippt und wir wieder weg sind, wieder unterwegs, und uns sagen: Na ja, vielleicht nächstes Mal  –
    Aber diesmal wird es kein nächstes Mal geben. Diesmal laufe ich nicht weg. Ich will nicht wieder von vorn anfangen, wie so oft, vor und seit Lansquenet. Egal, was passiert. Egal, was es uns kostet: Wir bleiben.
    Im ersten Dorf, das keine Kirche hatte, machten wir halt. Wir blieben sechs Wochen, dann zogen wir weiter. Drei Monate, danach eine Woche, einen Monat, wieder eine Woche, und ständig änderten wir unsere Namen, bis man sehen konnte, dass ein Baby unterwegs war.
    Anouk war damals fast sieben. Sie war begeistert von dem Gedanken, dass sie bald eine kleine Schwester bekommen würde. Aber ich war so müde, und ich hatte alles so satt, immer wieder ein neues Dorf an einem Fluss, die kleinen Häuschen und die Geranien in den Blumenkästen. Ich hatte es satt, wie die Leute uns, vor allem Anouk, anschauten und immer wieder die gleichen Fragen stellten.
    Kommen Sie von weit? Wohnen Sie hier bei Verwandten? Wird Monsieur Rocher auch bald nachkommen?
    Und wenn wir

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