Siddharta
Hermann Hesse
Siddhartha
Eine indische Dichtung
Siddhartha, die weltberühmte Legende von der Selbstbefreiung eines jungen Menschen aus familiärer und gesellschaftlicher Fremdbestimmung zu einem selbständigen Leben, zeigt, daß Erkenntnis nicht durch Lehren zu vermitteln ist, sondern nur durch eigene Erfahrung erworben werden kann. Hermann Hesse erzählt die fiktive Lebensgeschichte Buddhas -
Siddhartha ist sein Vorname - und versucht zu ergründen, »was allen Kon-fessionen und menschlichen Formen der Frömmigkeit gemeinsam ist, was über allen nationalen Verschiedenheiten steht, was von jeder Rasse und von jedem einzelnen geglaubt werden kann«.
Wie authentisch diese »indische Dichtung« buddhistisches und taoistisches Gedankengut assimiliert hat, zeigt sich nicht nur stilistisch in der rhythmi-schen Diktion der Reden Buddhas, sondern auch wirkungsgeschichtlich durch die millionenfache Verbreitung, die das Buch auch in den asiatischen Ländern gefunden hat. Die große Vertrautheit Hesses mit den kulturellen Traditionen Indiens und der altchinesischen Philosophie von Lao Tse vermochte das Komplizierte auf so gültige Weise vereinfacht darzustellen.
Hermann Hesse, am 2.Juli 1877 in Calw geboren, starb am 9. August 1962 in Montagnola bei Lugano. 1946 erhielt er den Nobelpreis für Literatur..
Suhrkamp
Siddhartha wurde in den Jahren 1919 bis 1922 geschrieben.
Die Erstausgabe erschien 1922 im S. Fischer Verlag, Berlin
Umschlagillustration: O Milton
Glaser, New York 2000
suhrkamp taschenbuch 3144
Erste Auflage 2000 © Copyright 1953 by
Hermann Hesse, Montagnola
Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte
vorbehalten durch Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main, insbesondere das des
öffendichenVortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch
einzelner Teile. Druck: Clausen & Bosse, Leck / Printed in Germany /
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Eine indische Dichtung
Siddhartha
Erste Buchausgabe Berlin 1922
Erster Teil
Der Sohn des Brahmanen
Im Schatten des Hauses, in der Sonne des Flußufers bei den
Knoten, im Schatten des Salwaldes, im Schatten des Fei-
genbaumes wuchs Siddhartha auf, der schöne Sohn des
Brahmahnen, der junge Falke, zusammen mit Govinda, seinem
Freunde, dem Brahmanensohn. Sonne bräunte seine lichten
Schultern am Flußufer, beim Bade, bei den heiligen Opfern.
Schatten floß in seine schwarzen Augen im Mangohain, bei
den Knabenspielen, beim Gesang der Mutter, bei den heiligen
Opfern, bei den Lehren seines Vaters, des Gelehrten, beim
Gespräch der Weisen Lange schon nahm Siddhartha am
Gespräch der Weisen teil, übte sich mit Govinda im
Redekampf, übte sich mit Govinda in der Kunst der
Betrachtung, im Dienst der Versenkung. Schon verstand er,
lautlos das Om zu sprechen, das Wort der Worte, es lautlos in
sich hinein zu sprechen mit dem Einhauch, es lautlos aus sich
heraus zu sprechen mit dem Aushauch, mit gesammelter
Seele, die Stirn umgeben vom Glanzdes klardenkenden
Geistes. Schon verstand er, im Innern seines Wesens Atman
zu wissen, unzerstörbar, eins mit dem Weltall.
Freude sprang in seines Vaters Herzen über den Sohn, den
Gelehrigen, den Wissensdurstigen, einen großen Weisen und
Priester sah er in ihm heranwachsen, einen Fürsten unter den
Brahmanen.
Wonne sprang in seiner Mutter Brust, wenn sie ihn sah, wenn
sie ihn schreiten, wenn sie ihn niedersitzen und aufstehen sah, Siddhartha, den Starken, den Schönen, den auf schlanken
Beinen Schreitenden, den mit vollkommenem Anstand sie
Begrüßenden.
Liebe r ü h r t e sich in den Herzen der jungen Brahmanen-
t ö c h t e r , wenn Siddhartha durch die Gassen der Stadt ging, mit der leuchtenden Stirn, mit dem Königsauge, mit den
schmalen Hüften.
Mehr als sie alle aber liebte ihn Govinda, sein Freund, der
Brahmanensohn. Er liebte Siddharthas Auge und holde
Stimme, er liebte seinen Gang und den vollkommenen An-
stand seiner Bewegungen, er liebte alles, was Siddhartha tat
und sagte, und am meisten liebte er seinen Geist, seine hohen,
feurigen Gedanken, seinen glühenden Willen, seine hohe Be-
rufung. Govinda wußte: dieser wird kein gemeiner Brah-
mane werden, kein fauler Opferbeamter, kein habgieriger
Händler mit Zaubersprüchen, kein eitler, leerer Redner, kein
böser, hinterlistiger Priester, und auch kein gutes, dummes
Schaf in der Herde der Vielen. Nein, und auch er, Govinda,
wollte kein solcher werden, kein Brahmane, wie es zehntau-
send gibt. Er wollte
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