Hingabe
wurden zu Minuten. Jetzt würde es passieren. Endlich.
Beinahe umständlich nestelte er an dem Knoten, als würde er hoffen, dass dieser nicht aufgeht. Doch natürlich löste er sich.
Das Tuch fiel. Lena hatte jetzt fast eineinhalb Stunden nichts sehen können. Und sie nahm im ersten Moment alles nur verschwommen wahr. Vor ihr saß M. Sie sah erst seine dunklen Haare, den Bartschatten, sein Gesicht. Dass es markant und männlich war, konnte sie erst nur erahnen, denn sie blinzelte gegen das Licht. Wie das Erwachen aus einem langen Schlaf, wie das Heraustreten aus dem Schatten in das Licht. Das Bild wurde klarer, es wurde schärfer. Sie konnte ihn sehen. Sie kannte ihn nicht und doch war er ihr in diesem Augenblick näher als sonst jemand auf der Welt. Er war ihr unbekannt und doch gleichzeitig vertraut. Aus ihrem zweifelnden Gesicht wuchs ein Lächeln. Ihre Augen glänzten, ihre Lippen öffneten sich. Lena war wie eine Blume, die sich der warmenFrühlingsonne entgegenstreckte. Und M. war ihre Sonne. Nichts konnte die Sonnenstrahlen aufhalten, die sich gleich auf ihrer Haut niederlassen würden. Nichts.
Sie hoffte, er würde sich vorbeugen und sie küssen oder irgendetwas tun, irgendetwas Schönes. Stattdessen schaute er sie nur an. Beschützend. Aber sie sah auch einen Hauch von Sorge in seinem Gesicht. Warum sollte er sie in diesem Moment sorgenvoll anschauen? Sie konnte ihn sehen und sie mochte sehr, was sie sah. Männlich markante Gesichtszüge, einen kratzigen Dreitagebart. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und sah unverschämt gut aus. Warum die Sorgenfalten?
Und ganz langsam dämmerte es ihr. ER war nicht alleine hier im Zimmer. Es war noch jemand da. Deswegen war er angespannt und besorgt. Okay, einen Dreier hatte sie noch nie gemacht. Aber sie vertraute ihm, er hatte sie bisher nie enttäuscht. Bei allem, was ER von ihr verlangt und ihr gegeben hatte. Vielleicht sollte der Fremde ja nur zusehen. Sie versuchte, sich nicht auszumalen, was passieren könnte. Sie forschte in seinem Gesicht, sie versuchte, ihm zu sagen:
‚Ich vertraue dir, mach dir keine Sorgen, alles ist gut. Ich bin stark, weil du es bist, und weil du mir zeigst, dass mir nichts passieren kann.‘
Er kam mit seinem Gesicht näher. Seine raue Wange streifte leicht ihre Wange und hinterließ eine kaum merkliche Spur. Sein Mund erreichte fast ihr Ohr.
„Du solltest gleich versuchen, dich mal umzudrehen. Ohne die Augenbinde, denn musst du die Wahrheit kennen. Die ganze Wahrheit.“
Was meinte er denn damit? Wen würde sie sehen? Würde sie schockiert sein? Wer könnte die Person sein? Vielleicht eine Frau? Oder jemand, den sie kannte?
M. sprach weiter.
„Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Dreh dich jetzt um, oder ich lege dir die Augenbinde wieder um.“
Lena überlegte kurz. Nein, den letzten Schritt musste sie jetzt auch gehen. Sie sah M. und es war gut so. Sie war sicher. Egal, wer noch im Zimmer war.
„Ich werde mich umdrehen.“
Ein wenig zögernd kamen ihre Worte, obwohl sie sich mit fester Stimme zu sprechen bemühte.
M. bewegte sich zurück und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. Lena schaute ihn länger an, dann drehte sie ihren Kopf nach links, in Richtung der Tür.
Sie erstarrte. Das konnte nicht sein. Das war einfach nicht wahr. Ihr wurde kalt und heiß zugleich.
Dort neben der Tür stand ein Mann. Sie kannte ihn. Sie kannte ihn gut. Sie kannte ihn seit mehreren Jahren.
Es war Marcus.
Ihr Freund.
Der seit Tagen nicht reagierte und nicht auffindbar war.
Er stand neben der Tür und sah sie an. Und noch etwas bemerkte sie. Sein Blick war interessiert und irgendwie eingefroren und kalt.
Lena konnte es nicht fassen. Sie wusste nicht, was sie denken, geschweige denn sagen sollte.
„Marcus…“, sagte sie leise.
„Guten Abend, Lena.“
Seine Stimme war klar und direkt. Wenig liebevoll der Klang, fand Lena. Aber wieso sollte er auch liebevoll sein. Er fand seine Freundin nackt und gefesselt in einem Hotelbett mit einem anderen Mann. Kein Grund um liebevoll zu sein. Der blödeste und sicherlich unglaubwürdigste Spruch wäre jetzt, ‚Es ist nicht so, wie es aussieht‘, also versuchte es Lenagar nicht erst.
„Ich hab dich anrufen wollen und dir alles sagen. Ich konnte dich nicht erreichen. Du bist nicht ans Telefon gegangen und hast auch nicht zurückgerufen.“
Ein Lächeln huschte über Marcus‘ Gesicht. Ein bitteres Lächeln.
„Und deswegen hast du dich hierhin fahren lassen, hast dich
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