Hinter dem Mond
füllen. Die Vorstellung, wie er nach dem Besuch vollgefressen und mit Schwung seinen kleinen Fuß in den kleinen Schuh rammen und seine Zehen in der weichen Dattelmatsche enden würde, ließ mich vor Lachen platzen.
Er stellte mir in den Jahren immer dieselbe Frage: »Leily Chanum, was ist besser: Deutschland oder Iran?«
Ich stöhnte dann immer laut, rollte mit den Augen, und meine Mutter zischte auf Deutsch: »Hör auf damit! Antworte Mohsen Agha! Badde!«
Und dann stöhnte ich noch mehr und wand mich wie ein kranker Aal.
Es war immer dasselbe, irgendjemand aus der Familie sagte etwas unfassbar Blödes zu mir, auf das es keine Antwort gab, nur weil ich ein Kind war und keine echte Frage verdient hatte, wie persische Erwachsene dachten.
In Deutschland hatten die Freunde meiner Eltern mich immer bewundert. Mich Sachen gefragt wie, was mir in Paris am besten gefallen hätte, warum ich die Peanuts gern hatte oder wieso ich gelbe Strumpfhosen lieber mochte als rote.
Meine Tante und ihr Mann hatten eine Tochter: Susan. Ein dickliches, temperamentloses Mädchen, das noch teigiger und verdruckster als ihr Vater war. Susan saß die meiste Zeit brav und still in einer Ecke, sah emotionslos mit ihren Kulleraugen die Erwachsenen an und gab keinen Laut von sich. Sie war drei Jahre jünger als ich, also sieben. Nie wieder habe ich ein so folgsames und langweiliges Kind getroffen.
Es fiel mir sofort auf, dass es im Iran nicht üblich ist, dass Kinder gegen ihre Eltern rebellieren, ihnen trotzen oder gar unverschämt werden und sich widersetzen. Persische Kinder waren obrigkeitshörig und von Geburt an leicht erziehbar und immer Streber. Nichtstreber gab es nicht. Wenn einmal ein Kind laut lachte, unerlaubt nach den ungenießbaren Süßigkeiten griff oder schnell wegrannte, wurde es gleich liebevoll Scheitun genannt. Scheitun heißt wörtlich übersetzt Teufel, bedeutete aber eher »so ein Racker«.
Ich überlegte, was die alle sagen würden, wenn sie wüssten, aus welchen Gründen ich in Deutschland Teufel genannt wurde. Die meisten Kinder mussten sogar ihre Eltern siezen, mein Vater siezte seine Eltern, und Mohsen Agha siezte mich. Nur ich duzte alle, trotz des Gezisches meiner Mutter. Persische Kinder sagten immer artig: Ja, gerne!, wenn man etwas von ihnen verlangte, und brachten grundsätzlich immer die besten Noten aus der Schule nach Hause. Wenn sie einmal nur die zweitbesten Noten hatten, dann weinten sie tagelang und lernten doppelt so viel, um wieder die besten Noten zu bekommen.
Persische Kinder gingen natürlich auch gern auf die Schulen, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten, trugen dankbar die scheußlichen Klamotten, die ihnen ihre Mütter gekauft hatten, und studierten nach der Schule devot genau das, was ihre Eltern wollten, und die wollten immer Medizin oder Ingenieurwesen. Und irgendwann heirateten sie jemand, der auch, oder im schlimmsten Fall nur, ihren Eltern gefiel. Dann bekamen sie schnell Kinder, die sie wieder scheußlich anzogen und zu schleimigen Idioten erzogen, die immer nur das taten, was von ihnen erwartet wurde. So lief es von Generation zu Generation. Meine Eltern redeten sich ein, dass ich deshalb »schwierig« war, weil sie dem Trend in Studentenkreisen Mitte der sechziger Jahre, als ich geboren wurde, gefolgt waren und mich antiautoritär erzogen hatten. Mich immer nach meiner Meinung und meinem Willen zu fragen und in allem frei entscheiden zu lassen, hätte mich zur Rebellin gemacht. Das war natürlich der totale Quatsch. Meine Eltern haben mich einfach schon ganz früh alles alleine machen lassen, weil sie keine Lust hatten, sich so um mich zu kümmern und mich zu bewachen, wie es die Perser mit ihren Kindern taten. Meine Mutter war froh, wenn ich nicht neben ihr saß. Ich nervte sie schnell. Und ich saß abends oft lange dabei, wenn Freunde da waren, weil mich einfach keiner ins Bett gebracht hatte. Wenn wir in Restaurants aßen, wollte mein Vater, dass ich mein Essen selbst bestellte. Und ich weiß auch nicht, ob man mich überhaupt nach meiner Meinung fragte, aber ich habe sie ihnen trotzdem gesagt.
Ich hatte eine unbändige Energie in mir, immer das durchzusetzen, was ich wollte. Mein Leben war nur dazu da, meinen Willen durchzusetzen, fand ich. Und ich wusste ganz genau, was ich wollte, und vor allem, was ich nicht wollte. Wenn Dinge anders liefen, wurde ich wahnsinnig wütend und aggressiv. Ich hatte von allem eine genaue Vorstellung, und alles war plötzlich ganz
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