Hinter Jedem Konflikt Steckt Ein Traum, Der Sich Entfalten Will
bei der Lösung von Konflikten half, war seine große Fähigkeit, sich auf beide Seiten zu stellen und die Menschen selbst dann noch zu mögen, wenn sie sich unmöglich benahmen.
Außerdem hatte er keine Angst vor lauten Gefühlen. Wenn Menschen spüren, da steht ein anderer hinter mir und versucht mich zu verstehen, dann können sie Extrempositionen schneller aufgeben und friedlicher werden. Schon am Anfang eines jeden Treffens stellte er eine Flasche von seinem besten Wein parat, damit am Ende der Mühen alle miteinander anstoßen konnten. An vielen Stellen in diesem Land tun Menschen nichts anderes als mein Vater. Streitschlichter, Pädagogen, Therapeuten, Kollegen, Chefs und Familienmitglieder – sie stellen sich hinter die Menschen, mit denen sie zu tun haben. Jenseits aller möglichen Urteile mögen sie sie und ringen mit ihnen gemeinsam darum, dass sie verstanden werden.
Tiefe Demokratie im ganz normalen Leben
Der Geist der Tiefen Demokratie, der sich in vielen Gruppenprozessen und in der Einzelarbeit bewährt hat und als grundlegendes Arbeitsprinzip die Prozessarbeit inspiriert und oft überhaupt erst möglich macht, meint viel mehr als politische, spirituelle oder soziale Korrektheit: Alle Meinungen, Gefühle, persönlichen Entwicklungsprozesse und gesellschaftlichen Tendenzen haben eine Berechtigung und mehr noch, sie werden als Ausdruck des Feldes, der Gruppe, des Teams, der Gesellschaft oder der Welt, die wir betrachten oder verändern wollen, gebraucht. Statt uns also beispielsweise gegen Wut zu wehren oder sie nicht mehr empfinden zu wollen, gewinnen wir Verständnis für diese Wut und finden heraus, was der Kern dieses lauten Empfindens ist, damit es sich verwandeln kann. So kann Tiefe Demokratie akzeptieren, dass es die Verurteilung und den Schutz vor Tätern braucht, aber auch ein Verständnis für ihr Verhalten entwickeln, das ein Ausdruck ist für ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe, wie neurobiologische Forschungsergebnisse nahelegen.
Tiefe Demokratie meint viel mehr als politische, soziale oder religiöse Korrektheit.
Mitten im Feuer eines Konflikts ist es schwer, Tiefe Demokratie zu üben. Es kann aber insbesondere für Führungskräfte, Moderatoren und Berater hilfreich sein, dieses Prinzip mitzudenken, weil es gute Interventionen und Entscheidungen auf allen Ebenen erleichtert und Verständnis dafür hat, wie unterschiedlich
Menschen ticken und gleichzeitig mit ihren Ticks verbunden sind. Wir kommen mit Disziplin alleine selten weiter und verhindern auf Dauer keinen kleinen und auch keinen großen Krieg durch Ausschluss, Verurteilung und Verbote. Tiefe Demokratie ist ein Prinzip, das mit dem natürlichen Fluss verbunden bleibt, sie akzeptiert den Fluss der Ereignisse mit all seinen Erscheinungsformen als bedeutsam und sucht nach Wegen, diesen Prozess zu unterstützen und die Träume Einzelner und ihrer Gruppen auf verträgliche Weise zu entfalten.
Fallbeispiel
Ich habe kürzlich mit einer Mitarbeiterin in der Kinderund Jugendhilfe gearbeitet, weil etwas ganz Schlimmes in ihrer Arbeit passiert war. Sie – ich nenne sie Susanne A. – war für die Schulbegleitung eines sehr aggressiven Jungen, dem ich den Namen Ralf gebe, zuständig gewesen und hatte seinen Kopf in einer körperlichen Auseinandersetzung an die Wand geknallt. Der Junge hatte sich bei seiner Mutter beklagt, diese beschwerte sich beim zuständigen Jugendamt. Die Organisation, für die Susanne A. arbeitete, erwartete jetzt von ihr einen Bericht, wie dies hatte geschehen können. Susanne hatte massive Probleme, diesen Bericht zu schreiben. Niemand verstand warum.
Susanne A. war zu Beginn der Beratung verzweifelt und weinte voller Reue. Als wir auf den Bericht zu sprechen kamen, sagte sie, dass sie ihn nicht schreiben könne, weil sie den Hergang nicht mehr genau erinnere. Ihre Stimme wurde hart, wenn es um den Bericht ging. Das war interessant und passte nicht zur vorherigen Reue und den Tränen. Bei früheren Beratungen im beruflichen Zusammenhang hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es immer einen triftigen Grund gibt, wenn Menschen etwas nicht tun oder tun können, obwohl sie durchaus dazu in der Lage
sein müssten. Dahinter verbirgt sich ein ernstzunehmendes Doppelsignal, das eine noch verdeckte Botschaft hat. Meine Hypothese war: Ein Teil in ihr will den Bericht nicht schreiben, weil die reuevolle Version, die einem Schuldgeständnis gleichkommt nach dem Motto »O je, ich habe körperliche Gewalt gegen ein Kind
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