Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
durchschlüpfen.
    Es blieb noch viel Zeit für den Auftritt des Kubaners, ich ging auf die Toilette und wählte die Nummer der automatischen Ansage
     des Wasserstands von der Kieler Förde, erwurde gemessen an der Holtenauer Schleuse, ich stellte das Mobiltelefon auf den Lautmodus: Achtung! Achtung! Pegel Holtenau
     viertausendneunzig. Tendenz bleibend. Das war ein Niedrigwert, erst ab sechs Meter dreiundvierzig lief das Wasser über die
     Kaikanten. Ein Mann stürzte aus einer Kabine, schaute mich an, schüttelte den Kopf, und verließ die Toilette, ohne sich die
     Hände gewaschen zu haben. Ich wurde dem Vater und Frau Vlasta vorgestellt, jede Minute ohne Kuß war eine verschwendete Minute,
     doch ich mußte mich zurückhalten, ich wollte nicht, daß man mich als den Flegel auf dem Barhocker in Erinnerung behielt.

[ Menü ]
     
    Das Buschfräulein verriet der Dame Vlasta, daß man den Bauern mit dem fluchenden Männermund bestraft habe, zwei Rotkappen
     hätten in die Mähne seiner Stute Gretchenschnecken geflochten, und es selbst hätte nur aus der Ferne zugeschaut, es selbst
     billigte das Schurkenzwergenstück, weil es selbst von den Flüchen des Bauern Nasenflügelstechen bekäme. Es selbst hieße übrigens
     Finna, Finna wie Finnland ohne Land, aber mit Au ohne U.
    Plötzlich wurde sie durchscheinend und wehte kurz wie ein Fetzen Schleier aus Glanzlichtern, und sie verschwand genau in dem
     Augenblick, da die Tochter des Komponisten mit dem braunäugigen Gast aus Deutschland durch die Tür trat, vielleicht hatten
     sie angeklopft, vielleicht hatte sie ›Herein‹ gerufen. Er steckte diesmal in einer Jeanshose mit großen Potaschenklappen,
     beim Hinsetzen hielt er sie fest, um zu verhindern, daß sie zu beiden Seiten abstanden. (Der Schuster hatte ihm schon mehrere
     Male von jugendlicher Mode abgeraten – er aber fand sich nicht zu alt und verabscheute Altherren-Cordhosen.)
    Die Liebe also. Also die Liebe. Über zwanzig Jahre Altersunterschied. Und aber die Liebe. Ihre erste Frage richtete sie an ihn: Was ist ein Zwerg? Sie sind deutsch, Sie müssen es
     wissen. Er sagte: Ich bin Schuhmacher oder vielmehr die zweite Kraft in einem Schusterladen, ich bin spezialisiert auf Fußumrisse.
     Aneschka zupfte einmal an seiner Taschenklappe, er verstand, er nickte, er dachte kurz nach, er sagte: Das sind Kobolde, kleiner
     als Liliputaner, sie machen dicke Backen und watscheln im Entenschritt im Kreis (falsch). Ich kenne eine Frau, die eine Rolle
     Zwirn um ihren Hals gewickelt hat, weil sie wissen wollte, ob es ihr, wie versprochen, nicht gelingen wird, auf das Fadenende
     zu stoßen. (Fast richtig. Es war erstens ein Mann, zweitens hat er sich nur einen Spaß machen wollen.) Ein Zwerg ist eine
     belebte Torfknolle im Nebelmantel.
    Er mußte seine Zwergenbeschreibung mehrmals aufsagen, Aneschka machte sich auf einem abgerissenen Haushaltswischblatt Notizen
     und erklärte es der Dame Vlasta auf tschechisch. In der Zwischenzeit kam ein orangegestreifter Kater aus dem Nebenzimmer und
     versuchte mit ausgefahrenen Krallen an seinem Hosenbein hochzuklettern. Er schüttelte ihn weg, der Kater döste unter dem Schemel
     ein. Die Frau ließ ihn nicht aus den Augen, der Ofen strahlte nur wenig Wärme aus, und er lauschte einem Geräusch und versuchte
     es in ein Bild zu übersetzen: Ein Spatz pickte auf einen Joghurtplastikbecherdeckel. Der Komponist hielt sich am Schneefanggitter
     am Dach fest und ließ unablässig abgebrochene Schwefelköpfe von Zündhölzern herunterregnen. Ein paar Kinder trugen einen Kichererbsenweitwurf-Wettbewerb
     aus. Er hielt alle diese Möglichkeiten für unwahrscheinlich, er beschloß, sich nicht weiter damit zu befassen.
    Die Dame Vlasta starrte ihn an, und er fragte sie, ob er sie mit seiner Zwergenbeschreibung enttäuscht hätte. Sie sagte nur:
     Der Holunder soll nimmer verdorren, sie bot ihnen Glühwein an, den sie vorsichtig und in kleinen Schluckenaustranken. (Was kann passieren in einer Winternacht, da die Bäume die schlechten Träume und den schlechten Atem des fluchenden
     Bauern und des Getiers im Wald einatmen? Was kann da schon einem Besucher zustoßen? Er wird sich natürlich nicht an den drei
     Nelken, die in seinem Glühwein schwimmen, verschlucken. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Nur das Moosweiblein hat geflunkert:
     Es heißt nicht Finna. Die Zwerge geben niemals, niemals ihren wahren Namen preis.)
    Natürlich fand es die Dame Vlasta seltsam, daß sie in den letzten

Weitere Kostenlose Bücher