Hinterland
sie aß sie beim Schlendern durch kleine Gassen, und sie mußte sich nicht wegen des Kopfsteinpflasters sorgen. Ferda hatte
die flachen Absätze festgeklopft, sie würden sich nicht lösen. Das, was von oben herabkam, fühlte sich auf ihrer Haut an wie
Schlammregen, sie kam zu spät zu ihrer zweiten Verabredung, die kleine Schwester ihrer Freundin hatte mit Wasserfarben die
Pocken angemalt, und sie mußten lange auf das großäugige Mädchen einreden, bis sie ihm endlich die Farbe abtupfen konnten.
Edita empfing sie in ihrer Wohnung, sie zog sich freiwillig ihre Schuhe aus, um nicht den Straßenschlamm ins Haus zu tragen.
Und sie erschrak. Überall standen Gipsbüsten von finster dreinblickenden Römern, ein Tunikazipfel war um Hals und Nacken geschlungen
und hing wie eine erstarrte Faltenstudie in Stein herab. Edita in knöchellangem Wollkleid mit Blümchenborte am Rocksaum. In und auf den Regalen Büsten, Edita
von ihnen umgeben, von ihnen umzingelt, faustdicke bis kniehohe Büsten, und Edita, die die Verwunderung der Besucherin verstand,
eilte in die Küche und setzte Teewasser auf, und nach einigen Minuten, in denen sie kein Wort miteinander sprachen, kam sie
mit zwei vollen Tassen wieder zurück. Eine schlappe Orchidee im Topf neben dem viktorianischen Sessel, an der Troddelborte
zwischen den beiden Vorderbeinen hatten sich Wollmäuse verfangen. Der elektrische Raumbefeuchter machte ein bißchen Lärm.
Dein Vater, sprach Edita, es geht um ihn. Er hat mich damals in der Grundschule immer nur angestarrt. Mehr nicht. Und jetzt
haben wir uns zufällig wiedergesehen, und er starrt mich wieder bloß an oder sagt seltsame Dinge. Aneschka kannte diese Frau
nicht, sie hatte sie hergebeten, um vielleicht durch sie bestärkt zu werden in ihrem Verliebtheitsgefühl, und wenn sie ihr
erzählte, daß ihr Vater, der bekannte Komponist, seltsamerweise von Kinderbuchillustratorinnen angehimmelt wurde, würde …
würde was passieren? Sie ließ sich von Ferda eine Umrißzeichnung ihres rechten wie linken Fußes machen, sie fand nichts dabei.
Edita stellte ihre Wohnung mit Gipsbüsten voll und glaubte, eine höhere Kraft hätte zwei ehemalige Drittkläßler nach Jahrzehnten
zusammengeführt. Sie fand nichts dabei. Also sagte Aneschka: Mein Vater komponiert Lieder, die auch ein Automechaniker mitsummen
möchte. Jemand muß sich ja um die Melodien kümmern. Sein Starren darf man sich nicht zu Herzen nehmen, es bedeutet nur, daß
er das, was er sieht, länger ansehen mag. Ob du ihm gefällst, kann ich nicht wissen. Hast du ihn schon geküßt?
Edita bekam sofort einen Schluckauf, sie lief aber nicht rot an, sie stellte sich an das geöffnete Fenster, das Regengrau
ging langsam über in das natürliche Abendgrau, ein Auto sprang nicht an, der Plakatkleber marschierte mit Wischer und Kleistereimer zur Litfaßsäule in der Nebenstraße. Sie schloß das Fenster und sagte, sie wollte es ganz bestimmt versuchen, bald
wäre es so dunkel, daß sie das Haus verlassen konnte, und sie hoffte, Antonin hätte Zeit für sie, man durfte ihr bitte keine
geheimen Absichten unterstellen.
Später, als Aneschka den Weg ins Hotel ging und die nassen Tauben auf den Dachfirsten betrachtete, fiel ihr etwas ein, das
sie sofort wieder vergaß, und erst viel später, als sie ihre Brille abnahm und verwundert die Fettflecken auf den Gläsern
entdeckte, fiel ihr wieder der Gedanke ein, der ihr nach einem langen Kuß kurz durch den Kopf gegangen war: Wenn Ferda einen
Kuß auf ihre Lippen drückte, wischte seine Nasenspitze über ihre Brillengläser, und sie sah die Welt nur noch unklar. Sie
lächelte kurz, er hatte tatsächlich ein Fuchskneifgesicht und Haare wie ein Lausbube. Sollte sie ihn dazu überreden, nach
Prag zu ziehen? Hier gab es allerdings keinen großen Bedarf an Schustern, die Stadt glich immer mehr einem Freiluftmuseum,
vielleicht war es ungerecht, so etwas zu denken, vielleicht aber mochte sie viel lieber hier eine Weile und dort eine Weile
sein. Sie sang gerne für andere Menschen.
Sie singt wunderschöne Lieder, und wenn sie mir im Hotelzimmer ein Lied singt, bin ich verliebter denn je. Wenn ein Ferkel
Gänsehaut bekommt, weiten sich die Poren zu kleinen rosa Pickeln – Aneschkas Stimme läßt die Haare an meinen Unterarmen sich
aufrichten, und sie sehen aus, als hätte ich mir mit dem Zirkeldorn tausend Löcher gestochen. (Er übertreibt.) Ich bin auf
offener Straße wütend
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