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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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sie aß sie beim Schlendern durch kleine Gassen, und sie mußte sich nicht wegen des Kopfsteinpflasters sorgen. Ferda hatte
     die flachen Absätze festgeklopft, sie würden sich nicht lösen. Das, was von oben herabkam, fühlte sich auf ihrer Haut an wie
     Schlammregen, sie kam zu spät zu ihrer zweiten Verabredung, die kleine Schwester ihrer Freundin hatte mit Wasserfarben die
     Pocken angemalt, und sie mußten lange auf das großäugige Mädchen einreden, bis sie ihm endlich die Farbe abtupfen konnten.
    Edita empfing sie in ihrer Wohnung, sie zog sich freiwillig ihre Schuhe aus, um nicht den Straßenschlamm ins Haus zu tragen.
     Und sie erschrak. Überall standen Gipsbüsten von finster dreinblickenden Römern, ein Tunikazipfel war um Hals und Nacken geschlungen
     und hing wie eine erstarrte Faltenstudie in Stein herab. Edita in knöchellangem Wollkleid mit Blümchenborte am Rocksaum. In und auf den Regalen Büsten, Edita
     von ihnen umgeben, von ihnen umzingelt, faustdicke bis kniehohe Büsten, und Edita, die die Verwunderung der Besucherin verstand,
     eilte in die Küche und setzte Teewasser auf, und nach einigen Minuten, in denen sie kein Wort miteinander sprachen, kam sie
     mit zwei vollen Tassen wieder zurück. Eine schlappe Orchidee im Topf neben dem viktorianischen Sessel, an der Troddelborte
     zwischen den beiden Vorderbeinen hatten sich Wollmäuse verfangen. Der elektrische Raumbefeuchter machte ein bißchen Lärm.
    Dein Vater, sprach Edita, es geht um ihn. Er hat mich damals in der Grundschule immer nur angestarrt. Mehr nicht. Und jetzt
     haben wir uns zufällig wiedergesehen, und er starrt mich wieder bloß an oder sagt seltsame Dinge. Aneschka kannte diese Frau
     nicht, sie hatte sie hergebeten, um vielleicht durch sie bestärkt zu werden in ihrem Verliebtheitsgefühl, und wenn sie ihr
     erzählte, daß ihr Vater, der bekannte Komponist, seltsamerweise von Kinderbuchillustratorinnen angehimmelt wurde, würde …
     würde was passieren? Sie ließ sich von Ferda eine Umrißzeichnung ihres rechten wie linken Fußes machen, sie fand nichts dabei.
     Edita stellte ihre Wohnung mit Gipsbüsten voll und glaubte, eine höhere Kraft hätte zwei ehemalige Drittkläßler nach Jahrzehnten
     zusammengeführt. Sie fand nichts dabei. Also sagte Aneschka: Mein Vater komponiert Lieder, die auch ein Automechaniker mitsummen
     möchte. Jemand muß sich ja um die Melodien kümmern. Sein Starren darf man sich nicht zu Herzen nehmen, es bedeutet nur, daß
     er das, was er sieht, länger ansehen mag. Ob du ihm gefällst, kann ich nicht wissen. Hast du ihn schon geküßt?
    Edita bekam sofort einen Schluckauf, sie lief aber nicht rot an, sie stellte sich an das geöffnete Fenster, das Regengrau
     ging langsam über in das natürliche Abendgrau, ein Auto sprang nicht an, der Plakatkleber marschierte mit Wischer und Kleistereimer zur Litfaßsäule in der Nebenstraße. Sie schloß das Fenster und sagte, sie wollte es ganz bestimmt versuchen, bald
     wäre es so dunkel, daß sie das Haus verlassen konnte, und sie hoffte, Antonin hätte Zeit für sie, man durfte ihr bitte keine
     geheimen Absichten unterstellen.
    Später, als Aneschka den Weg ins Hotel ging und die nassen Tauben auf den Dachfirsten betrachtete, fiel ihr etwas ein, das
     sie sofort wieder vergaß, und erst viel später, als sie ihre Brille abnahm und verwundert die Fettflecken auf den Gläsern
     entdeckte, fiel ihr wieder der Gedanke ein, der ihr nach einem langen Kuß kurz durch den Kopf gegangen war: Wenn Ferda einen
     Kuß auf ihre Lippen drückte, wischte seine Nasenspitze über ihre Brillengläser, und sie sah die Welt nur noch unklar. Sie
     lächelte kurz, er hatte tatsächlich ein Fuchskneifgesicht und Haare wie ein Lausbube. Sollte sie ihn dazu überreden, nach
     Prag zu ziehen? Hier gab es allerdings keinen großen Bedarf an Schustern, die Stadt glich immer mehr einem Freiluftmuseum,
     vielleicht war es ungerecht, so etwas zu denken, vielleicht aber mochte sie viel lieber hier eine Weile und dort eine Weile
     sein. Sie sang gerne für andere Menschen.
     
    Sie singt wunderschöne Lieder, und wenn sie mir im Hotelzimmer ein Lied singt, bin ich verliebter denn je. Wenn ein Ferkel
     Gänsehaut bekommt, weiten sich die Poren zu kleinen rosa Pickeln – Aneschkas Stimme läßt die Haare an meinen Unterarmen sich
     aufrichten, und sie sehen aus, als hätte ich mir mit dem Zirkeldorn tausend Löcher gestochen. (Er übertreibt.) Ich bin auf
     offener Straße wütend

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