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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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fast verdeckt vom filzigen Bart, und jedesmal, wenn sie wütend sprangen, zitterten ihre
     Bauchbeulen.
    Sie merkte nicht, wie ein neuer Tag anbrach, sie spürte nur, daß der dunkle Schleier auf ihrem Gesicht zerriß. Plötzlich starrten
     die Kleinchen in Richtung des Waldes, Rückzug, schrie ein dickes Männchen, und da sie erwartet hatte, daß der Haufen geschlossen
     zurückhüpfte, machte sie große Augen, als die Närrchen aus der Formation ausbrachen: Die einen trotteten drauflos, die anderen
     kullerten (Tatsächlich, sie kullerten wie eine Murmel), und dann gab es viele, die von einem Bein auf das andere springend
     einander zum Umfallen brachten. Das Käppchen ward gefunden – sie wußte es. Sie ließ ihnen etwas Zeit für ihre seltsame Gymnastik,
     am späten Vormittag des nächsten Tages füllte sie Fingerhüte mit zuckersüßem Quittensirup, trat mit einem einzigen Schritt
     über das Bachbett und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Die hängenden Närrchen schauten sie finster an, so leicht ließen
     sie sich nicht besänftigen. Am nächsten Tag füllte sie die leeren Fingerhüte mit bittersüßem Granatapfelsirup, die hängenden
     Närrchen blickten gleichgültig drein. Erst am sechsten Tag – sie trat frühmorgens ins Freie – empfingen die Zwerge sieschon am Erdbuckel zwischen Beet und Bach, sie hielten die Fingerhüte hoch, die sie mit rot gefärbtem Zuckerwasser auffüllte,
     sie tranken es in einem Zug, und da rollte etwas herbei und richtete sich auf und legte etwas auf ihre Schuhspitze. Es war
     ein zerkauter weißer Bindfaden, den der Meister darbot, um die Frau zum erwünschten Oberirdischen zu erklären – doch das konnte
     sie ja nicht wissen.
     
    Wieso starrt sie ihre Schuhe an? dachte der Komponist, er kaute an einer Handvoll Rauchmandeln, und wenn er den Blick schweifen
     ließ, hoffte er auf eine Frau zu stoßen, bei der er nicht nach einem Monat sein Autoradio aufdrehen mußte: Es war ihm passiert,
     beim letzten Mal, bei der letzten Bekanntschaft, sie hatte gesagt: In dem toten Eichhörnchen, das wir gerade umfahren haben,
     steckt mehr Leben als in dir. Das hatte sie gesagt. Sie kannten sich doch erst einen Monat und elf Tage, es war kein Fehler
     gewesen, diese Frau, die am Bankschalter ihren Dienst tat, anzusprechen. Ganz bestimmt nicht. Das Leben, das sie meinte, bestand
     aus Tanzveranstaltungen, teurem Wein, Urlaub in exklusiven Inselhotels und einem Überschuß an Übermut. Sie schrie, wenn ihr
     ein Musikstück gefiel, sie schrie sich fast heiser. Er schrie nur, wenn man ihn zwang, auf eine Leiter zu steigen und die
     Glühbirne auszuwechseln, er schrie, weil er nicht pfeifen konnte und aber vor Höhenangst pfeifen wollte. Immer wenn er in
     Liebe zu einer Frau entflammte, sagte er sich laut vor: Diese Liebe wurde im Himmel beschlossen und nicht in der Hölle! Deshalb,
     wirklich nur deshalb, fing er jedesmal an, sich zu verbessern. Er nahm sich vor, am Tisch und auf jedem Stuhl mit geradem
     Rücken zu sitzen. Er nahm sich vor, im Schlaf nicht mehr so weit auf seine Seite des Bettes zu rollen, daß er herunterfiel.
     Er nahm sich vor, Neujahrskarten an Freunde und Bekannte zu verschicken. Die Neue in seinem Leben aber fing gleich am ersten
     Tag von dem Leben zu schwärmen an, das sie mit ihmteilen wollte. Er fühlte sich in Prag wohl, es war seine schöne Stadt, und daß der neue Freund seiner Tochter der Stadt Komplimente
     machte, hatte ihn erst mißtrauisch gestimmt. Worauf spielte er an? Er wußte um die Scheidung des Komponisten, die jetzt fast
     ein Jahrzehnt zurücklag – wollte der Gast aus Deutschland vielleicht mit seiner Liebestauglichkeit angeben? Nein, das wollte
     er nicht. (Er lag richtig.) Verdammt seien Barhocker! dachte er, seine Füße ruhten auf der Chromstrebe, er hatte kein Gefühl
     in den Beinen.
    Er starrte auf den ausgestopften Auerhahn oben an der Längswand, von ihm aus gesehen rechts, und von ihm aus gesehen links
     saß am entferntesten Ende des langen Kneipentisches eine Frau, die ihm bekannt vorkam, er konnte sie keinem Lied und keinem
     Konzert zuordnen. Jetzt stand sie auf, blickte ihn an, blickte weg, blickte ihn wieder an, blickte weg, blickte wieder weg.
     So ging es so lange weiter, bis sie sich durch die Reihen der Mädchen vorgekämpft hatte. Als sie vor ihm stand, rutschte er
     vom Barhocker herunter, er wäre wegen seiner tauben Beine fast eingeknickt, es kam ihm schon komisch vor, daß sie stehend
     schwieg, schweigend stand

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