Historical Exklusiv Band 42
schwangeren Gestalten ein Ersatz-Modell benötigten. Talitha hatte ihnen nicht erzählt, dass sie nach ihrem ersten Auftrag – eine ihrer Hutkundinnen ließ ein Bildnis von sich anfertigen, um ihren Gemahl an ihre vorgeburtlich schlanke Gestalt zu erinnern – den lukrativen Verlockungen erlegen war, die das Posieren als Aktmodell mit sich brachte.
„Ich war im Atelier“, fing sie an, „und eine Gruppe von Männern machte unangekündigt ihre Aufwartung. Sie sind einfach heraufgekommen, weil sie glaubten, Mr Harland habe ein weibliches Modell oben. Sie fingen ein schreckliches Getöse an, weil sie mich unbedingt sehen wollten.“
„Wie furchtbar!“, riefen Mrs Blackstock und ihre Nichte wie aus einem Munde. Millie, eine überwältigende blonde Schönheit mit einer lieblichen Figur und einem wunderbaren Sopran, hatte eine Anstellung als Chorsängerin an der Oper. Trotz der allgemeinen Vorurteile, was ihren Beruf anbetraf, behielt sie sowohl ihre Tugend als auch eine bezaubernde Unschuld, egal, was für Fallstricke die Herren der Schöpfung für „Amelie LeNoir“, so ihr Künstlername, auslegen mochten.
„Haben sie dich entdeckt?“, fragte Mrs Blackstock. Sie behielt die drei jungen Damen unter ihrem Dach stets besorgt im Auge – obgleich die schlechten Erfahrungen, die sie als Witwe hatte machen müssen, sie gelehrt hatten, dass eine Dame aus begrenzten wirtschaftlichen Verhältnissen es sich kaum leisten konnte, sich zu sehr zu zieren, was ihre Moral betraf.
„Nein, glücklicherweise waren diejenigen, die am lautesten zur Jagd geblasen haben, abgelenkt, und alles ging gut. Doch es war beängstigend und mir war so furchtbar kalt …“
„Sieh zu, dass du ein ordentliches Abendessen zu dir nimmst, Talitha, Liebes, und geh früh zu Bett.“ Mütterliche Besorgnis schwang in Mrs Blackstocks Stimme mit.
„Ach, du meine Güte, seht mal auf die Uhr! Millie, wenn wir dir noch diese Papierwickler herausnehmen und dein Haar für die Vorstellung heute Abend frisieren wollen, müssen wir uns sputen!“
Sie scheuchte ihre Nichte vor sich her aus dem Zimmer, wobei sie Talitha im Hinausgehen die Schulter tätschelte.
Zenobia verlagerte das Gewicht auf ihrem Stuhl, um ihre Freundin besser ansehen zu können. Sie war unabhängige Gouvernante, die täglich zu ihren Familien hinausging, und drei Jahre älter als Talitha. Sie besaß eine kleine, aber angesehene Kundschaft unter den wenigen Familien, denen die Erziehung ihrer Töchter wichtig war. Diese Mädchen bekamen – zusätzlich zu dem regelmäßigen Unterricht durch die eigenen Gouvernanten – von Miss Scott Lektionen in Italienisch, Deutsch und sogar in Latein erteilt.
„Und?“, wollte Zenobia plötzlich wissen. Jahrelanges Kinderhüten hatte ihr einen sicheren Sinn für Halbwahrheiten vermittelt. „Wer war er?“
„Er? Wer?“
Zenobia rollte ihre braunen Augen himmelwärts. „Der Mann natürlich. Derjenige, der dich nicht gejagt hat.“
„Wie hast du … ich meine, wieso denkst du …?“
„Die Wahl deiner Worte war merkwürdig, das ist alles. Außerdem kenne ich dich. Du verbirgst etwas, ich spüre eine gewisse Erregung. Komm schon, erzähl es deiner Zenna.“
„Ich habe ihn nicht einmal gesehen, Zenna“, protestierte Talitha. „Nur seinen Schatten auf dem Boden. Sie kamen alle heraufgetrampelt, weißt du, und ich bin gerannt und wollte mich im Schrank verstecken, aber der Schlüssel ist heruntergefallen und ich hatte ja nur den Umhang, und der …“
„Tallie!“ Zenobias Gesicht spiegelte ihr Entsetzen. „Du willst mir doch wohl nicht sagen, dass du nackt posiert hast?“
„Äh … doch. Aber, weißt du, Mr Harland ist völlig immun gegen weibliche Reize. Das interessiert ihn gar nicht. Ich bin bei ihm so sicher aufgehoben wie bei dir. Niemand wird je seine klassischen Gemälde sehen oder gar kaufen – keines ist fertig und außerdem sind sie viel zu groß.“
„Tja, so, wie es sich anhört, haben ein paar Männer aber doch etwas gesehen“, erwiderte Zenobia düster. „Wie viele waren es denn eigentlich?“
„Vier. Aber selbst wenn sie mich je wiedersehen würden – von dem Bild her erkennen sie mich niemals. Man sieht mich doch nur von hinten.“
Ein leiser Schreckenslaut entfuhr Zenobias Lippen. „Und was ist mit dem Schrank, in dem du dich versteckt hast? Hat dich da drin keiner gefunden?“
„Doch, ja, einer von ihnen hat die Tür geöffnet. Aber er hat mein Gesicht nicht gesehen. Er war überhaupt der
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