Historical Exklusiv Band 42
perfekte Gentleman, gab mir meinen Umhang zurück und den Schlüssel, und dann hat er den anderen erzählt, der Schrank sei verschlossen. Schließlich sind sie wieder abgezogen.“
Zenobia stöhnte laut. „Du warst in einem Schrank, ohne Kleidung am Leib und ein Mann öffnete die Tür?“ Talitha nickte. „Und er hat keinen Ton gesagt und dich nicht angerührt oder …?“
„Er hielt kurz die Luft an“, gab Talitha zu. Bei der Erinnerung an das leise Stocken im Atem des Mannes lief ihr erneut ein Schauer über den Rücken.
„Das kann ich mir denken“, philosophierte Zenobia düster. „Durch irgendein Wunder bist du dem einzigen anständigen Mann in ganz London begegnet.“
„Er hat mich gerettet, aber … sicher habe ich mich trotzdem nicht gefühlt.“ Fragend zog Zenobia ihre eher dichten Augenbrauen hoch. „Na ja, seine Stimme klang so … so unterkühlt und distanziert, als wäre es ihm egal, was andere denken. Er muss … viel Macht besitzen.“
„Woher beim Leibhaftigen willst du das wissen?“, schimpfte die Freundin und bemühte sich, diesen letzten, anscheinend gefährlich hitzigen Bildern einen Dämpfer aufzusetzen. „Du hast ihn doch nicht gesehen, oder?“
„Nein, aber er strahlte so etwas aus. Ich kann es nicht beschreiben, Macht scheint mir indes das richtige Wort dafür zu sein. Mr Harland wollte ihn fragen, ob er als Alexander der Große für ihn Modell sitzt.“
„Du meine Güte. Na ja, wenn er den Bildern, die ich von Alexander gesehen habe, auch nur entfernt ähnelt, ist er in der Tat ein eindrucksvoller Mann. Welch ein Glück, dass du ihn nicht gesehen hast“, fügte sie verschmitzt hinzu, „sonst würdest du dir noch einbilden, in ihn verliebt zu sein.“
„Was für ein Unsinn!“ Lachend warf Talitha ihrer neckischen Freundin ein Kissen an den Kopf. Sie fühlte sich mit einem Mal viel besser. Alexander der Große, also wirklich!
Erfrischt von einer Nacht tiefen Schlafes, ungestört durch Träume von lärmenden Männern oder antiken Generälen, wachte Talitha am nächsten Morgen auf. Es versprach ein schöner, sonniger Tag zu werden, und sie fühlte sich so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.
„Geht es dir besser?“, fragte Zenobia sie am Frühstückstisch. Sie waren allein. Mrs Blackstock war auf den Markt gegangen, und Millie lag noch im Bett – wie sie so richtig sagte, war der Schönheitsschlaf in ihrem Gewerbe eine absolute Notwendigkeit.
„Mmmja.“ Großzügig strich Talitha sich Marmelade auf ihren Toast und besah sich die Annoncen auf der ersten Seite der Morgenzeitung. „Wie viel würde es wohl kosten, ein eigenes Geschäft aufzumachen, Zenna?“
„Als Hutmacherin?“ Nachdenklich schob sich die Freundin eine mit Schinken gespickte Gabel in den Mund. „Die Miete für den Laden – darin bräuchte man dann einen Arbeitsraum, die Ausgaben für Renovierung. Hinzu kämen die Kosten für Einrichtung und Material, und du müsstest Mädchen anstellen, die bei dir arbeiten. Viel Geld. Nicht so viel, wie ich für eine Schule bräuchte, aber doch eine Menge. Du bräuchtest ein Darlehen oder“, fügte sie verschmitzt zwinkernd hinzu, „einen Gönner.“
„Ich vermute, dass Madame D’Aunay so angefangen hat, indem sie das Abschiedsgeschenk einer solchen Person umsichtig investiert hat“, überlegte Talitha. „Allerdings habe ich absolut nicht die Absicht, mir einen Liebhaber zuzulegen, nur, um mir von ihm das Geld für ein Hutgeschäft zu borgen!“
Zenobia verschluckte sich fast vor Lachen. „Das wäre mit Sicherheit der originellste Grund, den Pfad der Tugend zu verlassen. Was hast du heute vor? Ich bin den ganzen Tag mit den zwei Hutchinson-Mädchen beschäftigt. Wir werden durch den Park spazieren und dabei Italienisch parlieren.“
„Das hört sich gut an. Von dem, was du mir erzählt hast, müssen die Hutchinsons eine reizende Familie sein. Ich habe auch einen angenehmen Tag vor mir. Ich muss zwei Hüte an meine Lieblingskundinnen ausliefern, Lady Parry und Miss Gower.“
Es sollte sich herausstellen, dass Talitha Mühe haben würde, sich ihre fröhliche Stimmung zu erhalten. Im morgendlichen Sonnenschein zeigte sich unbarmherzig, dass ihr braunes Ausgehkleid genauso unbefriedigend aussah, wie sie vermutet hatte. Es half also nichts, sie musste Stoff kaufen und sich ein neues Kleid nähen. Zurzeit sah sie sicherlich nicht so aus, als gehöre sie zu dem Personenkreis, deren Mitglieder den Damen der Gesellschaft ihre Aufwartung machten.
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