Historical Exklusiv Band 42
stürzen würde; zurückbleiben würde sie, allein auf diesem Sims.
Plötzlich blieb er stehen und riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie spürte, wie seine ausgestreckte Hand ins Leere tastete. „Die Hausecke“, flüsterte er. „Der Sims zieht sich an der nächsten Wand weiter. Wenn wir hier herumgelangen, sind wir außer Sicht.“
Einen Moment lang verließ er sie und eisig traf die feuchte Nachtluft sie an den Stellen, die sein Körper bis dahin gewärmt hatte, dann hatte er sie um die Hausecke gezogen. Gleichzeitig wurde hinter ihnen knarrend das Fenster nach oben geschoben und laute Stimmen schallten hinaus.
„Hier draußen ist sie nicht, es sei denn, sie ist gesprungen.“ Eine unbekannte Stimme, betrunken und absolut gleichgültig.
„Dieses Miststück. Wie zum Teufel konnte sie uns entkommen?“ Das war Hemsley.
Aus dem Atelier ertönte schwach die Stimme des empörten Künstlers. „Meine Herren, Sie haben da etwas verwechselt. Eine Frau hat eine Nachricht für ihre Herrin überbracht und ist dann wieder gegangen. Hier ist niemand …“
„Jack Hemsley wird es bedauern, geboren worden zu sein, dafür werde ich Sorge tragen“, flüsterte Nick an ihrem Ohr. Unter anderen Umständen hätte man seinen Tonfall als höflich plaudernd bezeichnen können.
Talitha erbebte. „Wirst du ihn fordern?“, flüsterte sie zurück.
„Irgendwann, ja.“ Nick ließ sich die einzelnen Silben auf der Zunge zergehen, dann veränderte sich sein Tonfall. „Gott sei Dank ist der Mond nicht zu sehen.“
Es regnete noch ab und zu und die aufklarenden Regenwolken bedeckten den Himmel nur unvollständig, doch Nick schien es zu reichen – und das war alles, was jetzt zählte. Sie hielt sich durch reine Willenskraft und die Kraft seines Körpers aufrecht.
Nick bewegte sich, als wollte er sich umdrehen, und sie schrie leise auf.
„Schsch. Ist schon gut. Nebenan ist das Dach niedriger als dieses hier und beinahe flach. Ein paar Zentimeter noch, dann haben wir es erreicht und können nach unten.“
Wie soll uns das helfen? fragte sich Talitha benebelt. Wie kommt man von einem Dach herunter?
„Ich werde dich für einen Moment loslassen, Tallie“, erklärte Nick bestimmt. „Bleib, wo du bist, und lehn dich zurück. Es dauert nur eine Sekunde.“
Bevor sie protestieren konnte, war er verschwunden. Völlig verängstigt schloss Talitha fest die Augen, presste sich gegen die Wand und wartete auf den entsetzlichen, dumpfen Aufschlag aus der Tiefe. Als seine Stimme plötzlich in Höhe ihrer Füße ertönte, war sie so entsetzt, dass sie die Balance verlor und geradewegs von dem Sims in seine Arme fiel.
„Schsch, Liebling, alles ist gut. Ich habe dich. Hier sind wir sicher, wir sind runter von dem Sims.“
Talitha holte tief Luft und zwang sich, die Augen zu öffnen. Nick nahm sie auf die Arme und trug sie vorsichtig über die flachen Bleischindeln des Nachbarhauses. Sie war splitternackt. Der Leinenumhang war verschwunden und ihre weiße Haut schimmerte im Licht des jetzt wieder scheinenden Mondes. „Oh!“ Talitha versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch Nick hielt sie fest.
„Sobald wir in dem Haus sind, bekommst du meinen Mantel, das verspreche ich dir. Hier oben kann uns niemand sehen. Kannst du einen Moment alleine stehen?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stellte er sie auf die Füße, half ihr mit einer Hand, das Gleichgewicht zu halten, und beugte sich hinab, um mit der anderen eine im Boden eingelassene Klappe zu öffnen. „Verdammt, sie ist zugesperrt.“ Er ließ sie los, zog ein Messer aus seinem Stiefel und setzte es am Rand der Klappe an. Mit einem Knall wie von einem Gewehrschuss splitterte das Holz, und die Tür war offen.
„Setz dich hin, während ich mich umsehe – hier oben wohnt offensichtlich niemand, sonst wäre schon jemand aufgetaucht.“ Er schwang sich in das Loch und verschwand. Talitha kniete sich auf die kalten Schindeln und spähte nach unten in die Dunkelheit. Sie zitterte mittlerweile unkontrollierbar, es fiel ihr äußerst schwer, sich zu konzentrieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Als lautes Flüstern drang Nicks Stimme zu ihr hinauf. „Setz dich an den Rand und lass dich fallen. Ich fange dich auf.“
Mittlerweile nicht mehr fähig, sich erst zu fragen, wohin sie wohl sprang, tat sie, wie ihr geheißen, und landete genau in Nicks Armen. Er setzte sie ab und steckte ihre Arme in den Mantel, den er bereits abgelegt hatte, ganz wie ein Kindermädchen, die
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