03 - Hinter dem Schleier der Tr��nen - Mein Abschied vom Harem der Frauen
Choga Regina Egbeme
Die Blüten der Wunderblume
Die Geschichte meines Lebens ist ein bisschen so wie die Wunderblume. Die heißt eigentlich Bougainvillea, aber Mama Bisi sagte einmal: „Ihre Kraft versiegt nie. Ist das etwa kein Wunder?“
Meine Lieblingspflanze ist ein Busch, der das ganze Jahr über in verschwenderischer Pracht blüht. Während gleichzeitig Knospen entstehen, fallen verwelkte Blüten zu Boden. In meiner Kindheit hatte Bisi mir erklärt, dass die zarten Kelche aus spitz zulaufenden Blättern gar nicht die Blüte sind, sondern rote Blätter. Die tatsächliche Blüte sitzt in ihrer Mitte und ist unscheinbar weiß und klein. Sie hätte nie so viele Bienen und Schmetterlinge angelockt. Dafür braucht sie die Hochblätter, die sie umgeben und gleichzeitig schützen. Die Wunderblume hakt sich mit kleinen Dornen an umstehenden Büschen fest. So rankt sie sich dem Sonnenlicht entgegen und wird mehrere Meter hoch.
Die Wunderblume birgt also ein doppeltes Geheimnis: Ohne die Hilfe anderer würde sie nicht so groß werden. Hätte sie nicht die roten Blätter, fände kein Insekt ihren Nektar. Frost verträgt sie nicht; dann fallen alle Blüten zu Boden.
Meine Mutter Lisa stammte von einem Bauernhof in Deutschland. Im Alter von 41 Jahren wanderte sie nach Westafrika aus. Sie heiratete meinen Vater David und lebte mit ihm in einem ungewöhnlichen Harem in Lagos, Nigeria. Mama Lisa, wie sie genannt wurde, war die einzige Weiße unter seinen vielen Frauen, und deshalb fiel ihr eine Sonderrolle zu. Sie reiste oft und überließ mich meinen „Lieblingsmamas“: Bisi war Vaters vierte Frau und Ada seine 28. Ich wuchs hinter hohen Mauern auf; die Glasscherben auf ihren Kronen glitzerten im Sonnenlicht wie Edelsteine.
Ich glaubte, dies sei mein Zuhause.
Als ich sieben war, lernte ich meine neue Heimat kennen. Mutter hatte eine Farm gekauft. Sie lag mitten im Herzen von Nigeria auf einer weiten, sanft hügeligen Hochebene. Der Boden war so fruchtbar, dass pro Jahr zwei Ernten möglich waren. Mutter hatte sich damit keinen Traum erfüllt. Papa David blieb mit den meisten seiner Frauen und ihrer kaum zu überblickenden Kinderschar weiterhin im Harem. Um sie zu ernähren, bewirtschaftete Mama Lisa mit ihren Mitfrauen Ada und Bisi sowie einigen Helferinnen die abgeschieden gelegene Farm in der Nähe von Jeba. Es war ein arbeitsames Leben, aber das Pflichtbewusstsein meiner deutschen Mutter, Bisis liebevolle Fürsorglichkeit und Adas Arbeitseifer schweißten die drei Frauen zusammen. Ihre enge Gemeinschaft wurde mir zum Vorbild.
Doch unser Glück währte nur sieben Jahre. Bis zu jenem Tag, an dem Felix Egbeme auf der Farm auftauchte. Er sollte sie übernehmen, denn mein Vater wollte meine Mutter wieder bei sich im Harem haben. Papa David war krank geworden und meine deutsche Mutter sollte ihm in der schwersten Phase seines Lebens beistehen. Als 14-Jährige war mir der 32
Jahre ältere Felix nur unsympathisch. Ich hasste ihn auch noch nicht, als meine Eltern mich mit 16 gegen meinen Willen mit ihm verheirateten. Ich hoffte nur, irgendwie davonzukommen, aber ich wurde vor schwere Prüfungen gestellt.
Mutter, Bisi und Ada halfen mir, hochschwanger aus dieser Ehe zu entfliehen. Amara, eine Freundin meiner Mutter, nahm mich in Lagos in ihrer Frauengemeinschaft auf. Mit 19 gebar ich meinen Sohn Josh und erfuhr, dass er durch mich HIV-positiv zur Welt gekommen war. Felix hatte seine Krankheit an mich weitergegeben. Die Naturheilerin Amara gab mir neuen Lebensmut, indem sie mich anlernte. Als Josh ein Jahr alt war, schickte mich meine Mentorin zu ihrer Freundin Ezira in den Regenwald.
In einer dreijährigen Ausbildung lehrte die weise Frau mich, wie ich meinem bereits an Aids erkrankten Kind mit den Mitteln der Natur helfen konnte. Mein Leben hatte einen neuen Sinn bekommen.
Anschließend kehrte ich zurück nach Lagos. Meine Mutter war bereits todkrank. Ich erzählte ihr, dass ich Heilerin geworden war. Sie überreichte mir die Besitzurkunde für ihre Farm, und ich spürte, die Neuigkeiten aus meinem Leben erreichten sie zu spät, als dass sie sich noch darüber hätte freuen können.
Mit schwacher Stimme sagte sie: „Du hast etwas aus dir gemacht, Choga Regina. Darauf kannst du stolz sein.“
„Ach Lisa, wie hört sich denn das an? Siehst du denn nicht, dass unsere Kleine eine glänzende Zukunft vor sich hat?“ Mit dem Elan, der in Bisis Erwiderung lag, wollten wir diese Zukunft gestalten: Bisi, Ada und ich
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