Historical Saison Band 18 (German Edition)
das Bild des Mannes, der sich einschränken musste. So konnte er kommen und gehen, wie er wollte, und tun und lassen, was er wollte, ohne dass man ihn mit Fragen belästigte oder um Almosen und Darlehen anbettelte.
Die Gesellschaft akzeptierte ihn als Mann edler Herkunft, Enkel eines Earls und Neffe eines anderen, wenn auch ohne Aussichten auf ein Erbe. Damit kam er als Kandidat auf dem Heiratsmarkt nicht infrage. Glücklicherweise.
Er verbrachte so wenig Zeit in London, dass es niemandem auffiel, wenn er wochen-, ja monatelang verschwand, wie er es in den vergangenen Jahren des Öfteren getan hatte. Seine perfekte Beherrschung der französischen Sprache und seine Kontakte in den französischen Hafenstädten hatten ihn dazu veranlasst, der Krone seine Dienste als Spion anzubieten.
Sein letzter Ausflug hatte ihn fast das Leben gekostet, als er um ein Haar der Gefangennahme entkommen war. Nachdem er seine gesammelten Informationen bei Wellington abgeliefert hatte, war er als Kurier nach London geschickt worden.
Da die Franzosen seine Identität nun kannten, konnte er in dem bestehenden Konflikt nicht mehr von Nutzen sein und war angewiesen worden, das unauffällige Dasein eines der zahlreichen unbedeutenden Adligen zu fristen, die in einem halbwegs anständigen Stadtviertel Londons mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebten. Die Täuschungen nahmen ihren Fortgang, doch es störte ihn nicht.
Die reine Wahrheit hatte ihm ohnehin nie gute Dienste geleistet und würde ihn auch bei Miranda nicht weiterbringen. Aber damit konnte er leben.
Er lächelte in sich hinein und setzte den langen Fußmarsch zu seiner Unterkunft über dem Schreibwarenladen fort. Die kalte Herbstluft war belebend, und er schätzte die Möglichkeit, sich ausgiebig Bewegung zu verschaffen.
Das Einzige, was er bedauerte, war, dass Miranda ihn nie wirklich kennenlernen würde …
3. KAPITEL
M iranda verbrachte die nächsten Tage mit morgendlichen Ausritten im herbstlichen Park, unter Bäumen hindurch, deren Laub in allen Schattierungen von Hellgelb bis Dunkelrot leuchtete, Mittagessen im Wallingford, Tee bei Lingdon’s und intime Dinner in ihrem Speisesalon. Es war eine anregende, außergewöhnlich unterhaltsame Zeit, und Neville erwies sich als wunderbarer Gefährte.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte sie, wie gut er mit den vielen unterschiedlichen Menschen zurechtkam, die sie bei ihren zahlreichen Ausflügen in die Stadt trafen. Er begegnete ausnahmslos jedermann freundlich und respektvoll. Rang und Namen schienen für ihn nicht von Bedeutung.
Eines Nachmittags schlenderten sie bei einem Spaziergang im Park an einer Familie mit Kindermädchen und zwei kleinen Buben vorbei. „Mögen Sie Kinder, Neville?“, fragte Miranda lächelnd. Sie waren übereingekommen, sich mit dem Vornamen anzureden.
Er dachte einen Augenblick nach. „Eher nicht.“
„Weshalb?“, verlangte sie zu wissen. Oh Gott, würde das am Ende der fatale Fehler sein, der alles unmöglich machte? Und sie hatte bis zu diesem Moment nicht einmal daran gedacht …
Er zuckte mit den Schultern. „Nun, ich habe nie mit Kindern zu tun gehabt. Aber ich stelle mir den Umgang mit den kleinen Rackern außerordentlich schwierig vor. Sie veranstalten einen Heidenlärm, wenn ihnen etwas nicht passt.“ Er sah sie prüfend. „Mögen Sie Kinder?“
„Und ob!“, bekannte sie vehement und war gleichzeitig zutiefst erschüttert von seinen Bemerkungen. „Man muss Kinder einfach lieben, und wenn Sie eines kennen würden, ginge es Ihnen auch so.“
Sie zuckte zusammen, als er schallend zu lachen anfing. „Ach, Miranda, manchmal kann ich einfach nicht anders, als Sie auf den Arm zu nehmen. Ich habe noch nie ernsthaft über Kinder nachgedacht. Ich nehme an, sie sind wie alle Menschen. Einige liebenswert, andere nicht.“
„Wenn es Ihre eigenen wären, würden Sie sie lieben. Alle Eltern tun das!“, beharrte sie lebhaft.
Sein Lachen verstummte, und er musterte sie ernst. „Tatsache ist, dass sie es tun sollten , Miranda.“
Im tiefsten Inneren wusste sie, dass er es tun würde. Zu spät fiel ihr ein, was er ihr über seine eigenen Eltern enthüllt hatte, aber wenigstens wusste er aus eigener Erfahrung, wie man nicht mit einem Kind umging. Schweigend drückte sie seinen Arm, als Entschuldigung für ihren Fauxpas, und prompt kehrte sein Lächeln zurück.
Miranda war ihm unendlich dankbar, dass er ihr nie etwas übel nahm. Einen so ausgeglichenen, bescheidenen Mann fand man
Weitere Kostenlose Bücher