HISTORICAL WEIHNACHTEN Band 01
Natürlich wäre Nicolette dann erschienen, um meinen Platz einzunehmen, während ich mich an ihrer Stelle ins Bett gelegt hätte. Das Täuschungsmanöver hätte nicht lange dauern müssen, weil ich vorhatte, nach etwa einer Stunde wie durch ein Wunder von meinen Schmerzen zu genesen und mich zu den anderen zu gesellen.“ Mit einem wehmütigen Unterton fügte sie hinzu: „Ich hatte mich darauf gefreut.“
„Meine bedauernswerte Lady“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Allerdings hatten wir keine andere Wahl. Vom heutigen Abend abgesehen, lässt Lord Henry seine Tochter keinen Moment lang unbewacht, und ich möchte kein weiteres Blutvergießen zwischen unseren Familien.“
Sie musste daran denken, wie Hunde gejault hatten, und warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Es gab bislang kein Blutvergießen, und wenn es nach mir geht, wird es das auch nicht geben“, erklärte er.
„Was ein weiterer Grund sein dürfte, weshalb Ihr derzeit nicht versuchen werdet, mich nach Woldingham zurückzubringen.“
„Richtig. Denn wenn es Eurer Familie gelingen sollte, mich zu töten, dann würde das nicht dem Frieden dienen.“
„Dieses gesamte Abenteuer wird dem Frieden nicht dienen!“, hielt sie ihm vor Augen.
„Das ist mir nur allzu deutlich bewusst. Wie lange wird Lady Nicolette die Täuschung aufrechterhalten können?“
Joan gab die Hoffnung auf, ihn zu der Einsicht zu bringen, wie dumm es gewesen war, Nicolette überhaupt erst zu verführen. „Das lässt sich unmöglich sagen, Mylord.
Ich kann nur hoffen, Lady Ellen ist wegen der Entführung viel zu abgelenkt. Dennoch könnte es sein, dass sie zu Nicolette ans Bett kommt, in dem ich vermeintlich liege, um mir von dem Vorfall zu erzählen. Denkbar ist auch, dass man sie bis zum Morgen unbehelligt lassen wird. Könntet Ihr mich bis vor Tagesanbruch zurückbringen?“
„Vielleicht. Aber das war nie Teil des Plans. Was wird mit Lady Nicolette geschehen, wenn man sie entdeckt?“
„Den wahren Grund wird sie nicht nennen können, also wird sie behaupten müssen, wir hätten uns einen Streich erlaubt. Lord Henry wird sie dafür bestrafen, so viel ist gewiss.“
„Wie hart wird seine Strafe ausfallen? Ihr habt Lord Henrys heiliges Schauspiel ruiniert, vielleicht sogar ein Sakrileg oder einen Verrat begangen.“
Joan wusste auch so, was sie getan hatten, das musste er ihr nicht noch erklären.
„Lord Henry liebt seine Tochter sehr.“
„Aber ich nehme nicht an, dass er Euch genauso liebt wie sie. Vielleicht wäre es besser, Ihr würdet gar nicht nach Woldingham zurückkehren.“
„Ich werde nicht zulassen, dass Nicolette sich allein ihrem Vater stellen muss.“ Ihre ehrenhafte Erklärung wurde von einem plötzlichen Geräusch unterbrochen – dem Knurren ihres leeren Magens.
Edmund zog die Brauen hoch, dann stand er auf und nahm eine Holzkiste hoch, die er geöffnet neben Joan abstellte. „Schweinefleisch, Brot und ein Kuchen mit getrockneten Früchten. Kein Festmahl, aber immerhin etwas zu essen.“
Er selbst nahm nichts davon, sondern kehrte zu seinem Platz neben dem Feuer zurück. Joan hätte es ihm gern nachgetan und das Essen ignoriert, doch sie war wie ausgehungert. „In Woldingham fastet man an Heiligabend“, erklärte sie. „Ich habe den ganzen Tag nur trockenes Brot und Wasser zu mir genommen.“
„Wohingegen ich Fisch und anderes aß. Bitte, Mylady, bedient Euch. Es ist für Euch gedacht. Während Ihr esst, haben wir Zeit zu überlegen, was wir unternehmen können.“
Joan versuchte, sich ihren Hunger nicht zu sehr anmerken zu lassen, und nahm nur winzige Bissen Fleisch und Brot. „Ihr müsst mich nach Woldingham zurückbringen, Mylord, solange noch Hoffnung besteht, dass wir das Täuschungsmanöver aufrechterhalten können.“
„Wenn es allerdings bereits aufgedeckt wurde, dann wird es um Euch schlecht bestellt sein.“
„Ich gehe nicht davon aus, dass Lord Henry mich umbringen wird. Und Nicolette auch nicht“, fügte sie hinzu, da es sie mit einem Mal störte, wie wenig Sorge er für seine Geliebte erkennen ließ. „Aber wenn er von dem Kind erfährt …“
„Dieser Gefahr bin ich mir bewusst, Lady Joan. Deshalb auch dieser Versuch, Lady Nicolette in Sicherheit zu bringen.“
Sie wollte ihn zurechtweisen, weil ihre Cousine seinetwegen ein Kind erwartete, doch sie konnte sich noch eben beherrschen. „Wie lange wird es dauern, bis wir zurückkehren können?“
Sein Blick wanderte zu der Holzkiste.
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