Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
fallen, kam gleich wieder auf die Beine und fing an zu rennen. Sie rannte wie noch nie in ihrem Leben, stürmte in den Wald hinein, achtete auf nichts, kümmerte sich nicht um die nassen Zweige, die ihr ins Gesicht klatschten, und kannte nur ein Ziel: So schnell wie möglich von hier wegzukommen, heim nach Angadoor, in die Sicherheit ihres Dorfes.
Sie glaubte hinter sich noch einen wütenden Befehl zu vernehmen, man solle sie verfolgen, fangen und wahrscheinlich töten, denn sie war Zeugin einer Begebenheit geworden, die nicht für die Augen irgendeines Fremden bestimmt war, und das kam einem Todesurteil gleich. Sie rannte und rannte, fiel mehrfach hin, rappelte sich wieder auf und kam kurz darauf zu der seltsamen Gewissheit, in Sicherheit zu sein, dass nichts auf der Welt so schnell rennen konnte wie sie in diesem Augenblick.
Ihre Gewissheit wurde jedoch enttäuscht. Sie hörte hinter sich Geräusche und wütende Rufe, daher gestattete sie sich keine Sekunde des Verweilens, um sich zu orientieren. Trotz der Dunkelheit glaubte sie auf dem geraden Weg nach Angadoor zu sein und rannte weiter, so schnell sie ihre Füße trugen. Dann war sie aus dem Wald heraus, aber der Regen strömte mit so unverminderter Macht herab, dass sie nicht erkennen konnte, in welcher Richtung die Brücke lag. Heiß kam ihr die Erkenntnis, dass sie verloren war, wenn sie die Brücke nicht auf Anhieb fand. Sie würde am Flussufer entlang irren, und dort würde man sie erwischen, denn sie besaß nicht die Ausdauer, um den Reitern zu entkommen.
Von neuerlicher Angst getrieben, hastete sie vorwärts, aber da hörte sie schon etwas aus dem Wald hinter sich hervorbrechen. Es war so laut und wild, dass sie dachte, es wären gar keine Männer auf Pferden, sondern eine Monstrosität, die Limlora herbei beschworen und ihr auf die Fersen gehetzt hatte.
Sie wagte nicht, sich umzuwenden, als sich das Krachen und Bersten von Zweigen und Holz wiederholte. Sie stieß nur einen kraftlosen Schrei aus, rannte weiter und betete zu den Kräften, sie möge die Brücke finden.
Sie hastete über die Wiese in Richtung des Iser und glaubte einen Moment später das Rauschen des kleinen Flusses zu vernehmen - aber nein, wie töricht, der Regen war viel zu laut. Hinter ihr platschte etwas über die feuchte Wiese, das beängstigend große Füße haben musste. Sie stieß ein Wimmern aus, rannte verzweifelt weiter. Ihre Lungen schmerzten, und sie rang um Luft, glaubte, vor Angst nicht mehr genug atmen zu können, um noch lange rennen zu können.
Dann kam tatsächlich das dunkle Band des Flusses in Sicht, und Leandra hielt verzweifelt nach der rettenden Brücke Ausschau. Aber da war nichts. Entsetzt flogen ihre Blicke flussauf, flussab; nein, sie konnte die Brücke nicht entdecken. Sie stieß einen weiteren Schrei aus, diesmal einen Schrei der Wut über die Grausamkeit des Schicksals, das ihr diese eine Hoffnung wenigstens noch hätte lassen können. Kraftlos und schluchzend sank sie zusammen. Sie hatte nichts mehr, um sich zu helfen, keine Waffe, keine Brücke, und nicht einmal eine lächerliche, kleine Magie, um sich zu verteidigen - nein, sie war eine Novizin, sie durfte nicht einmal ohne Aufsicht eine Kerze auf magischem Wege entfachen.
Schluchzend kauerte sie am Boden, während das dämonische Platschen hinter ihr lauter wurde. Nein, dachte sie wütend, als angehende Magierin dürfte sich nicht mal ohne Aufsicht gegen eine Todesgefahr wehren -selbst wenn sie irgendeinen dummen Trick gewusst hätte. Ihr Hirn suchte nach einer Erklärung für das Schicksal, das sich lärmend näherte und das es ihr vor Grauen unmöglich machte, sich umzuwenden, um ihm in sein teuflisches Gesicht zu blicken.
Plötzlich wurde es unerträglich hell, und Augenblicke darauf war sie von so heißem Dampf eingehüllt, dass sie vor Schmerz aufschrie. Sie ließ sich flach auf den Boden fallen, während sie einen gewaltigen Donnerschlag vernahm, dessen Echo ihr alle Knochen im Leibe durchschüttelte. Ein krächzendes, unnatürlich hohes Brüllen erklang, und dann traf sie etwas wie ein schwerer, nasser Sack und begrub sie unter sich.
Das Nächste, was sie wahrnahm, war eine Hand über ihrem Gesicht. Sie wusste nicht, wovon sie sich so nass anfühlte - vom Regen, von ihren Tränen oder von noch etwas anderem, etwas, das sie sich nicht vorzustellen wagte.
Sie begann zu wimmern, aber da hörte sie schon die Stimme einer Frau, die ihr beruhigend zuflüsterte. Völlig im Ungewissen, was um sie
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