Hölle ohne Hintertür
einzige Bett sah bequem aus, war
aber schmal wie eine Pritsche. Das Federbett war glatt gestrichen, ebenso das
Kopfkissen.
Gaby sprach aus, was Tim
dachte. »Wenn hier wirklich jemand über Nacht geblieben ist, Häuptling, dann
hat er im Sessel geschlafen.«
»Scheint so.«
»Oder sie haben gefeiert und
durchgemacht«, sagte Karl, »bis dass der Hahn kräht.«
Hinterm Haus standen die
üblichen drei Entsorgungstonnen. Die für Papier enthielt nur einen zerrissenen
Karton, die für Restmüll Plastikbehälter, in denen Nahrungsmittel verpackt
gewesen waren; die Biotonne war angefüllt mit Küchenabfall. In einer Kiste
müffelten leere Blechdosen mit Hundefutterresten vor sich hin. Von Schnaps-
oder Weinflaschen keine Spur.
»Wenn sie gefeiert haben«,
sagte Tim, »dann jedenfalls nicht feuchtfröhlich. Mich wundert, dass er Alina mitgenommen
hat, aber nicht das Führgeschirr. Ist doch wichtig für einen Nichtsehenden. Ich
guck mal in die Garage.«
Sie war geschlossen, aber nicht
abgesperrt. Leer. In den Ecken verdreckte Spinnennetze. Auf dem staubigen Boden
zeichneten sich die Reifenspuren ab. Dazwischen entdeckte Tim eine kleine
Öllache. Er schloss das Garagentor. »Warum hat er das Geschirr nicht
mitgenommen? Warum hat er sein Handy zurückgelassen? Mehr als seltsam. Oder?«
Gaby nickte.
»Aber noch kein Grund zur
Sorge«, meinte Karl. »Der Mensch als solcher verhält sich nur selten vernünftig
oder so, wie man’s von ihm erwarten könnte. Das ist seit Jahrtausenden üblich
und heute merkt man’s vor allem im Straßenverkehr. Dass Alexander Korlitzer
ohne seine zwei wichtigsten Hilfsmittel unterwegs ist — dafür gibt es
sicherlich eine einfache Erklärung.«
»Ich bin trotzdem besorgt«,
sagte Gaby. »Und wir werden uns kümmern. Morgen stehen wir hier wieder auf der
Matte. Gebongt, Jungs?«
Sie nickten.
»Danke für eure Begeisterung.«
»Morgen haben wir vormittags
sechs Stunden«, gab Tim zu bedenken, »und nachmittags Theater-Workshop. Gleich
nach dem Essen.«
»Dann eben danach.«
Sie verließen das Grundstück.
Oskar fiepte. Er vermisste Alina.
»Wie funktioniert so ein
Führgeschirr eigentlich?«, überlegte Klößchen. »Geht’s nicht auch mit ‘ner
Leine?«
»Das Geschirr ist
unverzichtbar«, erklärte Karl, »ist sozusagen der Info-Kanal zwischen dem
Blinden und seinem Führhund. Natürlich muss der Blinde die Zeichen kennen.
Bleibt der Hund stehen und geht vorn das Geschirr nach oben, beispielsweise,
weiß der Blinde sofort: Aha, mein Hund steht mit den Vorderpfoten auf einer
Stufe. Also, Achtung: Treppe. Und zwar aufwärts. Weist das Geschirr nach unten,
ist es eine Abwärtstreppe.«
»Du bist mal wieder bestens im
Bilde«, lächelte Gaby. »Eignen sich eigentlich alle größeren Hunderassen als
Führhunde?«
»Im Gegenteil. Die meisten
nicht. Der idealste Führhund ist die Labradorhündin. Belastbar,
familienfreundlich, nervenstark und gutartig ohne jede Aggression.«
»Wenn ich im nächsten Leben als
Hund geboren werde«, grinste Tim, »bin ich ein Labrador. Meinen Charakter kann
ich komplett übernehmen.«
Alle lachten.
»Ich sehe dich mehr als
Dobermann«, meinte Gaby.
»Wieso?«
»Weil man dich auch für
Angriffszwecke und Schutzdienstaufgaben verwenden kann. Du musst nur noch
gehorchen lernen — wenn ich pfeife.«
»Letzteres überlasse ich
Oskar«, grinste Tim.
»Noch mal zum Blindenführhund«,
sagte Karl. »Da kommt es vor allem auf die wirklich erstklassige Ausbildung an.
Und man kann nur staunen, was für eine Hilfe der Hund dann ist. Eine enorme
Leistung. Er muss sich zurechtfinden im Dschungel der modernen Städte, in
Warenhäusern und Bahnhöfen, an Straßenkreuzungen und Baustellen, im Gedränge,
bei jedem Wetter, überall. Verkehrslärm und überfüllte Fußgängerzonen dürfen
ihn nicht aus der Fassung bringen. Ein gut ausgebildeter Blindenhund ist eine
Kostbarkeit.«
»Nämlich?«, fragte Klößchen.
»Wie teuer?«
»20 000 Euro.«
Alle nickten und fanden den
Preis angemessen.
Als sie auf den Bikes saßen und
abfuhren, sah Tim zu dem Bungalow zurück. Das Haus wirkte seltsam verlassen,
trostlos das Grundstück. Ein Gefühl von Unheil überkam Tim und er spürte fast
so etwas wie Trauer. Warum?, dachte er. Bis jetzt kenne ich den Mann nicht und
solche Schicksale gibt es viele. Und noch mehr, die schlimmer sind.
19. Nachts
im Mailänder Hauptbahnhof
Nacht über dem Uro-Tal.
Silbriges Mondlicht verwandelte felsigen Grund, Sand und Geröll in
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