Hölle ohne Hintertür
eine
romantische Landschaft. Gunnar Korlitzer hätte sich nicht gewundert, wenn
irgendwo aus dem Schatten ein Wolf hervorgetreten wäre. Die Nacht war warm.
Zwischen den Sternen zogen zuckende rote Punkte ihre Bahnen. Das waren
Passagiermaschinen und Privatjets im Anflug auf den Mailänder Airport.
Korlitzer stand vor seinem Haus
und spürte den lauen Wind auf der Haut. Eine Nacht zum Träumen. Trotzdem
fröstelte er.
Alles war arrangiert. Sein
toter Bruder lag im Atelier, seiner Fingerkuppen beraubt. Korlitzer hatte sein
Haus durchforstet und alles, was verräterisch sein konnte, in einen Rucksack
gepackt. Vor allem die Fotos von sich und seiner Familie, die nun ausgelöscht
war — bis auf ihn. Er würde nie wieder hierher zurückkehren und bei dem
Gedanken empfand er keine Spur von Bedauern. Die Tür ließ er unverschlossen,
der Schlüssel steckte, der Mercedes parkte neben dem Haus.
Denn der dort drin, dachte er,
das bin ja ich. Die Knochenbrecher werden sich fuchsen. Maria wird Tränen
vergießen. Aber nicht allzu viele. Sie ist verdammt sachlich. Verstorbenes Zeug
streift sie schnell ab und sieht dann nach vorn.
Er rauchte seine Zigarette zu
Ende und drückte den Stummel am Türpfosten aus. Gunnar besaß ein altes Fahrrad,
das Maria nie gesehen hatte. Mit dem würde er jetzt eine längere Strecke
zurücklegen, dann in einem der entfernteren Orte einen Nachtbus nach Mailand
nehmen. Zur Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof. Von dort mit dem Nachtzug nach
Deutschland, in die Millionenstadt — und ein neues Leben begann. Als Blinder,
als Alexander Korlitzer. Der hatte eine Rente auf Lebenszeit und eine Menge
Geld auf der Bank.
Hinter dem Haus raschelte Sand.
Alina durfte frei laufen. Der Hund war super, gehorchte auch ihm aufs Wort, war
nur etwas verwirrt, weil seine Fähigkeiten als Blindenhund im Moment nicht
gefragt waren. Aber ab morgen wirst du mich umherführen, dachte Gunnar. Und wir
werden gut miteinander auskommen.
Abermals ging er in Gedanken
alles durch. Was vergessen? Irgendwas übersehen? Nein!
Er schulterte den Rucksack. Er
pfiff Alina heran. Er stieg aufs Rad. Der Sand der Straße knirschte unter den
Reifen. Alina lief nebenher und ein voller runder Mond sah herab.
Diese Nacht zum Mittwoch —
Gunnar Korlitzers Nacht war es nicht. Die nervliche Anspannung, die kaum
denkbare Situation — alles das war vermutlich der Grund für einen
haarsträubenden Fehler. Ein banales Ding, das sein Schicksal besiegelte; eine
lächerliche Vergesslichkeit, für die er sich ins Knie gebissen hätte. Nein, im
Haus hatte er nichts übersehen. Aber als er frühmorgens in der TKKG-Stadt
abfuhr mit dem Toten im Kofferraum, hatte er noch rasch in Alexanders
Briefkasten geschaut, denn der Postbote war da gewesen.
Zwei Briefe hatte er gebracht.
Belangloses Zeug. Die übliche aufdringliche Reklame von Firmen, die ihre Produkte
verkaufen wollen und vermeintliche Kunden direkt anschreiben. Namentlich. Mit
voller Adresse. Die eine Firma bot Nahrungsergänzungsmittel an, die andere
technisches Gerät. Das ging aus den Absendern hervor.
Gunnar hatte die Briefsendungen
nicht geöffnet, sondern gedankenlos ins Fach der Fahrertür versenkt, wo eine
Reihe von zerfransten Straßenkarten steckte. Die Briefe rutschten dahinter und
waren damit aus den Augen und aus dem Sinn. Aber die Adresse seines Bruders
servierte in zweifacher Ausführung die heiße Fährte zu ihm. Und der gleich
lautende Name tat ein Übriges, um die Adresse in den Brennpunkt zu rücken.
Morgen Vormittag würde Adamo
Scaleri alles finden.
Deshalb bedurfte es eigentlich
gar nicht mehr des aberwitzigen Umstandes, der sich außerdem noch in dieser
Nacht ereignen würde: nachher auf dem Mailänder Hauptbahnhof. Ein Umstand, der
die Ereignisse beschleunigte. Gunnars Verhängnis wurde zweifach genäht. Als
hätte es das Schicksal auf ihn abgesehen.
*
Nicoletta Martedi war zweimal
geschieden, hatte in der Fabrik am Fließband gearbeitet, dann als Taxifahrerin
und schließlich in einer Bar, wo sie Markus Susa kennen lernte. Der
ungeschlachte Typ mit dem Gaulgesicht und den rotblonden Haarstoppeln war das
Gegenteil von ihrem Traumtyp. Aber er baggerte sie an mit erstaunlicher
Ausdauer und er hatte die Taschen voller Geld. Nicoletta wusste, dass sie auf
dem absteigenden Ast war und ihr nicht mehr viel blieb. Erst als eine feste
Beziehung entstanden war, erfuhr sie, was er trieb. Aber nichts Genaues. Sie
hielt ihn für eine Art Leibwächter von irgendeinem
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