Höllenengel
gebracht hatte.
Er machte sich selbst Vorwürfe, weil er es für
selbstverständlich gehalten hatte, dass sie trocken blieb,
jeden Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Er machte sich
Vorwürfe, weil er nie richtig versucht hatte, ihr Ringen mit
sich selbst zu verstehen, geschweige denn ihr den Rücken zu
stärken. Eigentlich war ihm nicht mal der Gedanke gekommen,
dass sie Unterstützung brauchen könnte.
Þórhildur war eine starke Persönlichkeit.
Eigentlich hatte er seinen Kampf mit der Depression und ihre
Entschlossenheit, nicht mehr zu trinken, immer gleichgesetzt. Er
hatte manchmal sogar ihr Los für das leichtere
gehalten.
Sie musste ja schließlich nichts anderes tun, als zu
beschließen, nicht mehr zu trinken. Sie hatte es selbst in
der Hand.
Er aber konnte nicht einfach beschließen, nicht mehr
depressiv zu sein. Er musste Medikamente nehmen, um die Krankheit
in Grenzen zu halten, und sich regelmäßig
bewegen.
Sie musste weder Medikamente nehmen noch sich täglich mit
Gymnastik plagen.
Sie bestimmte über sich selbst. Er war irgendwelchen
rätselhaften Neurotransmittern ausgeliefert, ein genetischer
Defekt, an dem er selbst keine Schuld trug.
Sie war frei von diesem Erbdefekt und musste ihr Leben lang nichts
anderes tun, als Alkohol und alle Stoffe zu meiden, die Einfluss
auf die Stimmung haben.
Irgendwie so hatte er sich das vorgestellt. Wie
egozentrisch!
Er konnte in die Apotheke gehen und bekam die Medikamente, die die
Depression in Grenzen hielten, aber Þórhildur musste
sich nur mit ihrer Willenskraft als Waffe den einschüchternden
Botschaften ihres eigenen Körpers stellen.
Während er sich als Sieger erlebte, indem er der Depression
mit Tabletten und körperlichem Training begegnete, erlebte
Þórhildur sich ununterbrochen als fehlerbehaftetes
Exemplar.
Und damit nicht genug, wahrscheinlich machte sie sich selbst auch
noch Vorwürfe, dass sie ihre Mängel ihrem Sohn mit in die
Wiege gelegt hatte. Ihrem Sohn, den sie verlassen hatte.
Víkingur schrak aus seinen Überlegungen hoch, als die
Kellnerin, die ihm den Kaffee gebracht hatte, plötzlich an
seinem Tisch erschien und fragte: »Darf ich den Tisch
abräumen?«
Er sah sich um und bemerkte, dass er als Einziger noch im
Speisesaal saß. Es war schon fast halb elf und alle
Frühstücksgäste waren längst verschwunden. Das
morgendliche Büffet war entfernt worden und mit ihm die fetten
Würstchen, hartgekochten Eier, das Müsli, die
Fruchtsäfte und all die anderen Nahrungsmittel, die Reisende
aus aller Welt haben möchten, um sich dem neuen Tag stellen zu
können.
»Ja, selbstverständlich. Entschuldigen
Sie.«
Er dachte kurz daran, um eine Kanne Kaffee zu bitten, die er
Þórhildur aufs Zimmer bringen könnte, beschloss
aber, es nicht zu tun. Am besten wäre es, ihr nichts
aufzunötigen. Ihr selbst die Entscheidungen zu
überlassen.
Sie war im Bad, als er wiederkam. Er klopfte an die Tür und
rief ihr etwas zu, um sich bemerkbar zu machen. Sie antwortete:
»Ich mache mich gerade fertig.«
Er war erleichtert beim Gedanken, dass Þórhildur
wieder so war, wie sie sein sollte. Beschloss, alle Fragen zum
gestrigen Abend für einen geeigneteren Zeitpunkt aufzuheben.
Ihr zu ermöglichen, den ersten Schritt zu machen, über
die Dinge zu sprechen, wenn sie dazu bereit wäre.
Víkingur zog die dicken Vorhänge auf und das Tageslicht
erfüllte den Raum. Sie würden noch eine Nacht in
Amsterdam verbringen und hatten einen Heimflug zu einer
christlichen Zeit gebucht. Der nächste Punkt auf der
Tagesordnung war, mit Þórhildur raus in den
Sonnenschein zu gehen und irgendein Häppchen in sie
hineinzubekommen.
Er setzte sich in einen Sessel am Fenster. Þórhildur
nahm sich anscheinend viel Zeit, um sich fertig zu
machen.
Plötzlich bemerkte Víkingur, dass die Tür der
Minibar nicht richtig geschlossen war, sodass er sie mit der Zehe
anstieß. Als er die Tür zudrückte, beschlich ihn
ein ungutes Gefühl. Er stand auf und öffnete den
Kühlschrank. Irgendjemand hatte ihn ausgeräumt. Die
Fächer auf der Innenseite der Tür waren leer. Die kleinen
Fläschchen mit Wodka, Whisky und anderen Drinks waren
verschwunden.
Leider lag die Erklärung für diesen Schwund auf der Hand.
Die Minibar hatte Þórhildur am Vorabend in Versuchung
gebracht. Was für ein Dummkopf war er, dass er nicht beim
Einchecken dazugesagt hatte, dass sie keinen Alkohol in der Minibar
wünschten. Nichts wäre einfacher gewesen.
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