Höllenengel
Mut.
Möglicherweise spürte Þórhildur diese
Gedanken.
Er schämte sich dafür. Natürlich waren die
Gefühle von Þórhildur ihrem Sohn gegenüber
ganz andere als seine. Magnús war Þórhildurs
Sohn. Ihr Kind, das sie im Bauch getragen und neugeboren im Arm
gehalten hatte, lange bevor Víkingur die Szene
betrat.
In Wirklichkeit war Víkingur nur vom Namen her Stiefvater.
Der Junge war bei Brynjar, seinem leiblichen Vater, aufgewachsen.
Genauer gesagt, bis er dreizehn Jahre alt war, und danach bei sich
selbst, auf der Straße.
Er hatte seiner Mutter klargemacht, dass es sie nichts angehe, wie
er sein Leben lebte: »Du hast dich nicht um mich
gekümmert, als ich klein war, also wieso sollte ich mich dann
heute um dich kümmern?« Sie erreichten das Hotel um
Viertel vor fünf. Als sie sich von van Turenhout verabschieden
und ihm für die Begleitung danken wollten, sagte er: »Es
kommt gar nicht in Frage, dass ihr Holland verlasst, ohne mit mir
anständig Rijstaffel essen zu gehen.
Ich muss schließlich dafür sorgen, dass ihr nicht in
irgendeine Touristenfalle geratet. Ich hole euch um sieben Uhr
ab.«
Víkingur versuchte, zu widersprechen, aber van Turenhout
wandte ein: »Ihr müsst doch ohnehin etwas essen, und
wenn ihr euch mit mir gemeinsam einen Happen genehmigt, würdet
ihr mir einen großen Gefallen tun. Seit meine Frau in
irgendeiner Zeitschrift eine Methode fand, gesunde Menschen in
unterernährte Knochengerüste zu verwandeln, werde ich zu
Hause wie ein Mannequin ernährt.«
Diese zuvorkommende Einladung konnte man natürlich nicht
ablehnen.
*****
Þórhildur sprach kein einziges Wort, als sie im Lift
nach oben fuhren. Kaum waren sie im Hotelzimmer, sagte sie, sie
wolle unter die Dusche, und Víkingur hörte, wie sie die
Badezimmertür hinter sich verschloss. Das war neu.
»Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich mich
hinlegen«, sagte sie, als sie im weißen
Hotel-Bademantel aus dem Bad kam.
»Mach das ruhig, Liebling«, erwiderte Víkingur.
»Ich will ein Bad nehmen und wecke dich dann, sodass du genug
Zeit hast, dich für das Abendessen fertig zu machen.«
»Die Einladung möchte ich nicht annehmen«, sagte
sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es überhaupt
in Betracht ziehst, mit dem Mann essen zu gehen.«
»Das hättest du vielleicht vorhin erwähnen
sollen«, sagte Víkingur. »Ich kann keine
Gedanken lesen.«
»Ich dachte, du siehst, wie müde ich
bin.«
»Ja, aber Liebling, du musst doch verstehen, dass das zu
meiner Arbeit gehört. Ich konnte die Einladung nicht
abschlagen. Es geht hier nicht um dich und mich, sondern um die
Gastfreundschaft, die der isländischen Polizei
entgegengebracht wird. Es wäre richtiggehend unhöflich
von mir gewesen, abzulehnen.«
»Das verstehe ich«, sagte sie. »Aber dann
dürfte dir auch klar sein, dass es nicht direkt zu meinem
Aufgabengebiet gehört, im Namen der isländischen Polizei
ins Restaurant zu gehen. Ich bin müde und würde die
isländische Polizei nur blamieren, und das wollen wir doch
nicht.«
»Meinst du damit, ich soll ohne dich gehen?«
»Bingo!«, sagte Þórhildur und zog sich die
Bettdecke über den Kopf. »Ihr zwei Jungs habt sicher
jede Menge Spaß.«
Víkingur blieb zögernd am Bett stehen.
»Und was wirst du essen?«
Þórhildur lag still unter der Decke und antwortete
nicht.
Er sprach weiter: »Irgendetwas wirst du wohl essen
müssen.«
Þórhildur setzte sich im Bett auf. »Hör zu,
ich traue mir sehr wohl zu, festzustellen, ob ich etwas essen
möchte oder nicht. Mach dir da mal keine Sorgen.« Sie
sank auf das Kopfkissen zurück und zog sich die Decke
über das Gesicht. Víkingur wollte sich gerade auf die
Bettkante zu seiner Frau setzen und in Ruhe mit ihr sprechen, als
er sie unter der Decke raunen hörte: »Immerhin erinnerst
du mich nicht daran, einzuatmen.«
Er sagte gar nichts mehr, dachte sich nur, dass
Þórhildur hoffentlich bald selbst bemerken würde,
mit welcher Gehässigkeit sie die Sorgen um ihren Sohn an ihrem
Mann ausließ. Er ging zum Fenster. Die Sonne stand immer noch
weit oben am Himmel. Johannisnacht. Der Zeitpunkt, an dem das Licht
einen kurzzeitigen Sieg über das Dunkel feiert. Und dann
dringt die Dunkelheit wieder vor.
Er zog die schweren Gardinen zu, sodass es im Zimmer dämmrig
wurde.
Þórhildur rührte sich nicht. Er wusste, dass sie
wach war und jede seiner Bewegungen belauschte. Am meisten
verlangte es ihn danach, sich seiner Kleidung zu entledigen und
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