Höllenengel
Toten seine
Speckröllchen, Magnús aber ist
gertenschlank.«
»Das ist kein Körperfett, sondern Adipocire «,
sagte Þórhildur, »auch Leichenlipid oder
Leichenwachs genannt. Es entsteht in sehr feuchter oder nasser
Umgebung, wenn sich das Körperfett in Fettsäuren
verwandelt.
Ich schätze es ähnlich wie du ein. Der Tote ähnelt
Magnús nicht, aber die Fotos allein reichen mir nicht. Ich
muss ihn sehen, um endgültig sicher zu sein. Das musst du
verstehen.«
Ja, Víkingur verstand es.
Tatsächlich brauchte Þórhildur nur einen
Augenblick, um ihre Einschätzung zu verkünden, kaum war
das grüne Tuch von dem stinkenden Stück Fleisch gehoben
worden, das einst Teil eines lebendigen Menschen gewesen war:
»Das ist er nicht.«
»Möchten Sie nicht auch die Haut betrachten?«,
fragte der Leichenschauhauswärter. »Man sieht die
Einschnitte so schlecht. Die Haut ist so lose wie ein
Pullover.«
Löchriger Pullover wäre eine bessere Beschreibung
gewesen, denn die Haut war schon großflächig
verrottet.
Aber man sah dennoch deutlich, wo das Mal oberhalb der rechten
Brust eingeritzt worden war.
»Seitdem dieser Bezug zu Island auftauchte, hat man das am
ehesten mit Runenschrift in Verbindung gebracht«, sagte van
Turenhout, der bemerkt hatte, wie erleichtert die Frau
war.
Er war auch froh darüber, dass sie nicht näher nach der
Todesursache fragte und ihn nicht bat, das Bruchstück des
Billardstocks sehen zu dürfen. Er wollte nicht mit einer Frau
darüber fachsimpeln müssen, was geschieht, wenn ein
Billardstock mit solcher Kraft in den Enddarm eines lebenden Mannes
gestoßen wird, dass er zur Speiseröhre wieder
herauskommt.
Obgleich es diese Frau offensichtlich nicht sonderlich mitnahm,
menschliche Überreste in einem Zustand zu sehen, wie er nicht
einmal in den schlimmsten Albträumen normaler Menschen
vorkommt. Sogar Inspecteur Joost Langendyk, der sich als eine Art
Antwort Hollands auf Bruce Willis empfand, war sein Mittagessen auf
der Mole in Rotterdam losgeworden, Sekunden nachdem er angeordnet
hatte, die Tasche an Ort und Stelle zu öffnen.
*****
Van Turenhout schreckte im Leichenschauhaus des Flughafens Schiphol
aus seinem angenehmen Sinnieren über Langendyks Schwäche
auf, als der redselige Wärter wieder erschien, mit einer Bahre
vor sich, die er kraftvoll gegen die Flügeltür des
Wartezimmers rollte.
»Verzeihen Sie die Verzögerung«, sagte er,
»aber es ist nun mal so, dass die Leiche sich nach der
Obduktion nicht im besten Zustand befindet, sodass nicht sicher
ist, ob die Dame ...«
»Ich bin Gerichtsmedizinerin«, sagte
Þórhildur, ging zu der Bahre und hob das Laken von
Gesicht und Oberkörper des Toten. Sie sah, dass der Leichnam
nach der Obduktion nicht wieder hergerichtet worden war.
Brustkorb und Bauchhöhle hatte man auf die übliche Weise
mit einem Thoracoabdominalschnitt geöffnet, dem
Ypsilonschnitt, einem bogenförmigen Schnitt von der Schulter
hinunter bis zum Rippenbogen und wieder hoch zur anderen Schulter,
und dann führte ein Schnitt als gerade Linie vom Rippenbogen
herunter bis zum Schambein. Die Organe waren entfernt, der Schnitt
aber nicht wieder vernäht worden. Auch der Kopf des Toten war
nicht wieder hergerichtet. Der Gerichtsmediziner hatte einen
Coronalmastoidschnitt knapp hinter den Ohren quer durchs Haar
gemacht, von Ohr zu Ohr, und dann die Kopfhaut abgezogen, den
Schädel aufgesägt und seinen hinteren Teil, das
Calvarium, entfernt, um das Gehirn entnehmen zu
können.
Víkingur betrachtete das Gesicht und ließ sich dabei
von der Nachlässigkeit des obduzierenden Arztes oder des
Leichenschauhauswärters nicht beeindrucken, der dem Toten
nicht direkt im Anschluss an die Autopsie die übliche
Versorgung gegönnt hatte.
Auf den ersten Blick schien es das Gesicht eines alten Mannes zu
sein, faltig und aufgedunsen. Bei näherer Betrachtung stellte
sich aber heraus, dass es sich um einen jungen Mann handelte,
wahrscheinlich unter dreißig, schlank und knochig mit
auffallend dichtem, gelocktem Haar, das kohlrabenschwarz
gefärbt war. Der Haaransatz und der spärliche Bart
ließen auf ein helles Rot als ursprüngliche Haarfarbe
schließen. Das Antlitz kam Víkingur bekannt vor, aber
er konnte es gedanklich nicht einordnen.
»Könnten Sie mir Handschuhe geben?«, bat
Þórhildur den Wärter, der van Turenhout fragend
ansah und dann durch die Flügeltür eilte, um nach kurzer
Zeit mit einem grünen Umhang und
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