Höllenengel
Gummihandschuhen
zurückzukehren.
Þórhildur lehnte den Umhang ab, zog sich aber die
Handschuhe an und postierte sich am Kopfende des Rollwagens. Sie
umfasste den Haarschopf, der die Stirn bedeckte, mit beiden
Händen, drückte die Finger ins Haar und zog vorsichtig
daran. Die Falten verschwanden, und als sich die Gesichtszüge
des Toten, die wie eingefroren wirkten, glätteten, erschien
nach und nach ein bekanntes Gesicht.
»Das ist dieser Kerl aus dem Vogar-Viertel. Ási
...
Áskell, oder wie der heißt, der da jahrelang bei den
Motorradfreaks herumgehangen hat«, sagte Víkingur.
»Mir kam es so vor, als würde ich den auf dem Foto
kennen.
Nein, er heißt Ársæll Jódísarson
und wird wegen Brandstiftung mit Todesfolge gesucht. Nun ist er
also aufgetaucht. Aber ist es nicht seltsam, dass ein Mann, der
versucht, sein Aussehen zu verändern, indem er seine Haare
färbt, dann doch wieder auffallen will und sich eine
Tätowierung auf die Stirn machen lässt?«
»Das ist keine Tätowierung«, sagte van Turenhout,
»sondern irgendeine Tinte. Das ist mit einem Filzstift
gekritzelt und scheint dasselbe Zeichen zu sein wie auf dem Torso
in Den Haag. Seltsamer Zufall. Deswegen wollte ich, dass ihr euch
den Jungen mal anseht.«
Víkingur nahm einen Zettel mit einem Bild des Zeichens, das
sie morgens in Den Haag gesehen hatten, aus seiner Tasche. Er
reichte van Turenhout das Papier und bat ihn, es neben den Kopf der
Leiche zu halten. Dann machte er ein paar Fotos mit seiner
Handykamera.
»Das ist
dasselbe Zeichen«, sagte van Turenhout. »Aber was zum
Henker bedeutet es? Ist das etwas
Isländisches?«
*****
Die durchschnittliche Lebenserwartung isländischer Männer
ist weltweit die höchste, nämlich 79,4 Jahre.
Ársæll Jódísarson aus Keflavík,
der sein Leben auf einer öffentlichen Toilette des
Amsterdamer-Flughafens beendete, wurde 27 Jahre alt. Die
Todesursache war eine tödliche Dosis Amphetamin, das
intravenös gespritzt worden war. Die Obduktion ergab eine
Konzentration von 0,9 Milligramm pro 100 ml Blut.
Eine Putzkraft des Flughafens hatte den Toten in einer
verschlossenen Toilettenkabine gefunden.
Im Protokoll der Polizei wurde erwähnt, dass weder
Ausweispapiere noch Geld bei der Leiche vorhanden waren. Aber weil
es sich offenkundig um einen Drogensüchtigen handelte, schien
Raub eher unwahrscheinlich. Rätselhafter war es, dass keine
Spritze, weder in der Kabine noch in der Toilette, gefunden wurde.
Das konnte allerdings verschiedene Gründe haben. Vielleicht
hatte man auch nur nicht gründlich genug danach gesucht,
schließlich gibt es, wenn ein Junkie stirbt, selten Anlass zu
der Vermutung, dass sein Tod durch einen Zweiten verursacht worden
sein könnte.
Da keine Spuren am Leichnam auf Tätlichkeiten hinwiesen, wurde
als Todesursache ein fatales Versehen beim Drogenkonsum
festgestellt. Es wurde keine polizeiliche Untersuchung angeordnet,
schließlich gibt es nicht genug Personal, um den vorzeitigen
Tod eines jeden Drogensüchtigen zu untersuchen, selbst wenn er
irgendeine Kritzelei auf der Stirn hat.
Drei
Seine Intuition sagte van Turenhout, dass die Ehe von
Þórhildur und Víkingur schwierig sei. Doch es
war ganz im Gegenteil eine glückliche Ehe.
Die Þórhildur, die van Turenhout an diesem Tag
beobachtet hatte, war nicht die Þórhildur, die
Víkingur kannte. Kühl, schweigsam, gereizt, negativ,
gestresst.
Wenn er seinen Arm um ihre Schultern oder ihre Taille legte, wich
sie ihm aus. Wenn er etwas sagte, schwieg sie und tat so, als habe
sie ihn nicht gehört, oder sie antwortete ihm einsilbig. Nie
zuvor hatte er sich in ihrer Nähe überflüssig
gefühlt. Jetzt war es, als habe sie einen Schutzwall um sich
herum errichtet und ihren besten Freund ausgeschlossen.
Sie hatten frühmorgens den Zug nach Den Haag genommen und von
Den Haag hatte van Turenhout sie zum Flughafen Schiphol gefahren,
dann zum Hotel in A'dam bzw. Mokum, was, wie er ihnen
erklärte, Kosenamen der Einwohner für ihre Stadt
Amsterdam waren.
Víkingur verkniff sich die Bemerkung: »Habe ich es dir
nicht gesagt?«, als Þórhildur mit eigenen Augen
sah, was sie beide schon vorher wussten, nämlich dass die
menschlichen Überreste in Den Haag nicht von Magnús
stammten.
Er wurde von Gewissensbissen geplagt, weil er es erträglicher
gefunden hätte, wenn die Leiche des verlorenen Sohnes und
Stiefsohnes aufgetaucht wäre. Bei dem Gedanken, dass die
nagende Ungewissheit jetzt weiterginge, sank ihm der
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