Höllenflut
Mund, die starren Augen. Vor einer Stunde war er
noch voller Zuversicht gewesen, doch jetzt wirkte er
abgespannt, müde und fassungslos. Er mochte den Ausdruck auf
diesem verschwommenen Gesicht nicht, das ihn scheinbar aus
den Tiefen des Sees anstarrte. Zum erstenmal in seinem Leben,
jedenfalls soweit er sich erinnern konnte, war ihm bang und
beklommen zumute. Die Kunstschatze müssen irgendwo in dem
geborstenen Rumpf sein, sagte er sich ein ums andere Mal, als
das Boot immer tiefer in das kalte Wasser abtauchte.
Der Abstieg dauerte keine zehn Minuten, doch Qin Shang
kam es vor, als wären Stunden vergangen. Er starrte eine ganze
Weile hinaus in die Dunkelheit, bevor er die Scheinwerfer
einschaltete. Als es zusehends kühler in der Druckkammer
wurde, stellte er die Heizung an und regelte sie auf eine
Raumtemperatur von zwanzig Grad. Am Ton des Echolots
erkannte er, daß er sich rasch dem Grund näherte. Er blies die
Ballasttanks kurz mit Preßluft an, damit er langsamer sank. Ab
einer Tiefe von dreihundert Metern hätte er die am Kiel des
Tauchboots angebrachten Gewichte abgeworfen.
Im Licht der Scheinwerfer tauchte der flache, öde Grund des
Sees auf. Er tarierte das Boot fünf Meter über dem Boden aus,
stellte dann die Schubstrahler an und steuerte es in eine weite
Schleife. »Bin am Grund angelangt«, meldete er nach oben.
»Können Sie erkennen, wie weit ich vorn Wrack entfernt bin?«
»Laut Sonar nur etwa vierzig Meter westlich von der
Steuerbordseite des Vorschiffs«, antwortete Jiang.
Qin Shang spürte, wie sein Herz einen Takt schneller schlug.
Er zog die Sea Lotus herum, bis sie parallel zum Rumpf stand,
steuerte dann nach oben, über die Reling und am Rand des
vorderen Frachtdecks entlang. Er sah die Kräne, die plötzlich
aus der Dunkelheit aufragten, und umfuhr sie geschickt. Jetzt
befand er sich genau über den Frachträumen. Er brachte das
Tauchboot zum Stillstand, kippte das Heck nach oben, so daß
die Scheinwerfer nach unten strahlten, und starrte dann mit weit
aufgerissenen Augen in die leere, dunkle Höhle.
Voller Entsetzen stellte er fest, daß rundum alles leer war,
Dann, mit einemmal, bewegte sich etwas in der Dunkelheit.
Zuerst dachte er, es sei ein Fisch, doch dann kam eine
unsägliche Gestalt aus den schwarzen Tiefen des Frachtraums,
ein Monster wie aus einer anderen Welt. Langsam, fast
schwebend, stieg es auf wie ein Dämon aus grausigen Tiefen
und bewegte sich auf das Tauchboot zu.
Unterdessen blickte Kapitän Chen Jiang besorgt zu dem
Forschungsschiff, das mittlerweile um neunzig Grad beigedreht
hatte und auf die Jade Adventurer zuhielt. Zumal dahinter ein
Kutter der Küstenwache auftauchte, der bislang vom Rumpf des
großen Schiffes verdeckt worden war. Jetzt hielten beide mit
voller Fahrt auf das chinesische Bergungsschiff zu.
54
Qin Shang sah aus, als hätte er soeben einen Blick in den
tiefsten Abgrund der Hölle geworfen. Sein Gesicht war
kreidebleich und starr, wie aus getrocknetem Kitt geformt.
Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn, während er mit
schreckgeweiteten Augen nach vorn blickte. Er, der seine
Gefühle sein Leben lang fest im Griff gehabt hatte, war mit
einemmal wie gelähmt. Bangen Mutes starrte er auf den
tropfenförmigen Kopf des gelbschwarzen Monsters, sah das
Gesicht, das sich zu einem gräßlichen Grinsen verzog. Und dann
erkannte er die Züge.
»Pitt«, keuchte er heiser.
»Jawohl, ich bin's«, antwortete Pitt über das in seinen
Newtsuit eingebaute Funkgerät. »Sie können mich verstehen,
nicht wahr, Qin Shang?«
Qin Shang stand wie unter Schock, traute seinen Augen und
Ohren kaum. Dann packte ihn eine unbändige, wahnwitzige Wut
auf diese Gestalt, die so plötzlich vor ihm aufgetaucht war. »Ich
verstehe Sie«, sagte er ruhig, während er mühsam um Fassung
rang. Er wollte nicht wissen, woher Pitt kam oder was er hier
suchte. Ihn quälte nur eine Frage.
»Wo sind die Kunstschätze?«
»Kunstschätze?« erwiderte Pitt mit argloser Miene, soweit
man sie durch das dicke Glas des Helmes erkennen konnte.
»Wo sind sie geblieben?« herrschte Qin Shang ihn an. Starr
und blicklos schaute er nach vorn. Er wußte genau, daß er
verloren hatte. »Was haben Sie mit den alten Meisterwerken
meines Volkes gemacht?«
»Ich habe sie an einen Ort gebracht, wo sie vor raffgierigem
Lumpenpack wie Ihnen sicher sind.«
»Wie das?« fragte er nur.
»Mit viel Glück und dank der Hilfe vieler tüchtiger Leute«,
versetzte Pitt
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