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Hoellennacht

Hoellennacht

Titel: Hoellennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Leather
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eigentlich nicht recht, aber wir müssen dieses kleine Mädchen wieder reinholen.«
    Er machte die Tür weit auf, und Nightingale ging mit dem uniformierten Beamten hinein. Die Frau des Mannes saß auf einem Blumenmustersofa und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Sie war ebenfalls grauhaarig, und als sie aufstand, um Nightingale zu begrüßen, sah er, dass sie denselben krummen Rücken hatte. » Bleiben Sie doch sitzen, Mrs. Wilson«, sagte er.
    » Was geschieht jetzt?«, fragte sie aufgeregt. Wie ihr Mann wirkte sie gebildet und hatte einen Akzent, der einem BBC -Sprecher alle Ehre gemacht hätte. Die beiden waren brave Bürger von der Sorte, die fast niemals mit der Polizei zu tun bekommt– Nightingale spürte, wie unangenehm es ihnen war, ihn und den Kollegen bei sich in der Wohnung zu haben.
    » Ich werde nur mit ihr reden, Mrs. Wilson, das ist alles.«
    » Hätten Sie gerne eine Tasse Tee?«, fragte sie.
    Nightingale lächelte. Als Angehöriger der CO 19 wurde er oft genug mit Verachtung, wenn nicht sogar offener Feindseligkeit behandelt, und die Wilsons waren da eine angenehme Abwechslung. » Sie können gern den Kessel aufstellen, Mrs. Wilson«, sagte er. » Sagen Sie, kennen Sie Sophie?«
    » Wir grüßen uns, aber sie ist ein schüchternes, kleines Ding, das kaum den Mund aufmacht.«
    » Ein glückliches Mädchen?«
    » Das würde ich nicht behaupten«, meinte Mrs. Wilson.
    » Sie weint manchmal«, erklärte ihr Mann ruhig. » Nachts.«
    » Und was für ein Weinen ist das?«, fragte Nightingale. » Ein lautes Geheul?«
    » Sie schluchzt«, sagte Mr. Wilson. » Ihr Kinderzimmer stößt an unser Bad, und manchmal höre ich sie, wenn ich mich zum Schlafen fertigmache.«
    » Wir haben sie beide schon gehört«, fügte Mrs. Wilson hinzu. Ihr Mann ging zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern.
    Einen kurzen Moment überkam Nightingale die Erinnerung an seine eigenen Eltern. Sein Vater war gegenüber seiner Mutter ähnlich fürsorglich gewesen und hatte sich nie gescheut, in der Öffentlichkeit ihre Hand zu halten oder seine Zuneigung auf andere Weise zu zeigen. In Nightingales letzter Erinnerung an die beiden standen sie in der Tür ihres Hauses in Manchester, sein Vater hatte seiner Mutter in ähnlicher Weise den Arm um die Schultern gelegt, und so winkten sie ihm nach und entließen ihn in sein zweites Universitätsjahr. Seine Mutter hatte mit derselben Bewunderung zu Nightingales Vater aufgeblickt, die er jetzt in Mrs. Wilsons Augen sah.
    » Haben Sie eine Ahnung, warum sie unglücklich ist?«, fragte Nightingale. » Haben Sie sie mit ihren Eltern gesehen?«
    » Selten«, antwortete Mr. Wilson. » Wie lange wohnen sie jetzt schon hier– fünf Jahre?«, fragte er seine Frau.
    » Sechs«, sagte sie.
    » Sechs Jahre, und ich kann die Gelegenheiten, bei denen ich Sophie mit ihrer Mutter oder ihrem Vater gesehen habe, an den Fingern einer Hand abzählen. Sie ist immer mit einem Au-pair-Mädchen zusammen, und das scheint alle sechs Monate oder so zu wechseln.« Er sah seine Frau an, und diese nickte beinahe unmerklich. » Ich will ja nicht schlecht über andere Leute reden, aber sie kamen mir nicht wie besonders fürsorgliche Eltern vor.«
    » Verstehe.« Nightingale nahm sein Feuerzeug und die Zigaretten aus seiner Manteltasche und reichte dem Polizisten den Mantel. » Setzen Sie sich doch, während ich hinausgehe und mit ihr rede«, sagte er zu den Wilsons.
    Mr. Wilson half seiner Frau aufs Sofa, während Nightingale zur Glastür ging, die auf den Balkon hinausführte. Eigentlich war es eine Terrasse mit Terrakotta-Fliesen und genug Platz für ein rundes, weißes Metalltischchen, vier Stühle und mehrere Töpfe mit blühenden Sträuchern. Darum herum lief eine hüfthohe Mauer.
    Die Tür glitt auf, und Nightingale hörte Verkehr in der Ferne und das Rauschen von Polizeifunkgeräten. Er trat langsam hinaus und blickte nach rechts.
    Das kleine Mädchen saß auf der Mauer des Nachbarbalkons. Sie hielt eine Barbiepuppe in der Hand und schien ihr etwas zuzuflüstern. Weißes Sweatshirt mit einem blauen Baumwollrock und silberfarbene Turnschuhe mit blauen Sternen darauf. Porzellanweiße Haut und schulterlanges, blondes Haar, auf einer Seite hinters Ohr gesteckt.
    Zwischen Nightingales Terrasse und der Terrasse, wo sie saß, klaffte ein Spalt von etwa zwei Metern. Nightingale überlegte sich, dass er es schaffen könnte, hinüberzuspringen, aber nur im äußersten Notfall. Er ging langsam zum Rand der Terrasse

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