Höllental: Psychothriller
ihre rechte Hand, die sie nach hinten weggestreckt hatte. Er packte so fest wie möglich zu, wurde durch die Wucht ihres Falls nach vorn gegen das Geländer gezogen, prellte sich die Rippen und hatte Mühe, seinen Stand zu wahren. Nur seiner Größe und seinem Gewicht hatte er es zu verdanken, nicht selbst in den Abgrund gerissen zu werden.
Roman schrie auf. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm durch den Arm bis ins Schultergelenk, und er meinte, darin etwas reißen zu spüren. Trotzdem hielt er ihr Handgelenk weiter fest umklammert. Die Frau war nicht schwer, aber er hielt sie nur an einem Arm, außerdem baumelte sie im Wind, und der Sog der Tiefe zerrte an ihr.
Ganz langsam hob sie den Kopf und sah zu ihm hinauf.
Angst und Panik, er hatte sich nicht getäuscht. Aber warum kam es Roman so vor, als fürchte sie sich vor ihm?
Viel länger als zwei Sekunden dauerte es nicht, aber Roman hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in diese blauen Augen zu schauen. Schließlich wandte sie den Blick ab, sah in die Schlucht hinunter und begann, ihre Hand in seinem Griff zu winden.
»Nein, tu das nicht«, schrie Roman.
Er kämpfte, konzentrierte sich auf seinen Griff, stellte sich vor, seine Finger wären Eisenklammern. Die Zähne zusammengebissen, fest gegen das Geländer gepresst, stieß er einen unmenschlichen Schrei aus und versuchte, die Frau hinaufzuziehen. Ein paar Zentimeter nur, dann sackte sie wieder ab, und Roman erkannte, dass er nicht die geringste Chance hatte, wenn sie ihm nicht half.
Und das tat sie nicht. Stattdessen wand sie sich weiter in seinem Griff. Seine Kraft ließ nach, die Muskeln begannen zu zittern, er spürte, wie seine Finger sich öffneten. Zentimeter für Zentimeter entglitt sie ihm.
»Nein«, brüllte Roman noch einmal.
Plötzlich war seine Hand leer. Einen winzigen Moment schien sie frei über dem Abgrund zu schweben. Dann fiel sie. Rasend schnell. Prallte auf halber Strecke gegen einen Felsbrocken, taumelte zur Mitte der Klamm, schlug auf einen spitzen Grat und tauchte in ein schmales, mit eisig kaltem Wasser gefülltes Becken. Die Strömung riss den leblosen Körper mit sich, er trieb über eine Kante und verschwand in der schäumenden Gischt.
Augsburg
01.12.2009
I hre Oberschenkelmuskulatur brannte, ihre Lunge litt Qualen. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht zu Boden, ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar flog hin und her. Mara Landau trieb die Maschine und sich selbst bis an die Belastungsgrenze. Aus dem Inneren des Stairmasters erklang ein metallenes Kratzen, trotzdem stellte die zweiundzwanzigjährige Brünette die Schwierigkeitsstufe noch höher – auf die höchste Frequenz, die das Gerät hergab. Während Maras Hände die Pulsmesser umklammerten, pumpten ihre Beine auf und ab und simulierten den harten Anstieg einer zwanzigprozentigen Steigung.
Von allen aeroben Geräten im Fitness-Studio benutzte Mara Landau den Stairmaster am häufigsten. Sie liebte diese Maschine. Sie liebte die Schmerzen, den Schweiß, das Gefühl, an ihre Grenzen zu gehen. Außerdem war es das perfekte Training fürs Bergsteigen. Mit siebzehn Jahren war sie zum ersten Mal zum Klettern in die Berge gegangen. Anfangs war es ihr nur um das reine Felsklettern gegangen, doch in den letzten zwei Jahren war mehr und mehr das Höhenbergsteigen hinzugekommen. Jetzt waren es die schneebedeckten Gipfel, die sie reizten. Und dafür brauchte man Kondition. Wenn Mara wie jetzt alles gab, malte sie sich gern aus, wie sie eines Tages auf einen der Achttausender im Himalaya steigen würde. Schon jetzt verfolgte sie jede Sendung darüber, las jedes Buch, jeden Erfahrungsbericht. Und sollte sie eines Tages das dafür nötige Geld zusammengespart haben, dann würde sie diesen Traum Realität werden lassen.
Bis dahin reichten ihr die Alpen.
Und der Stairmaster.
Sie hielt die hohe Frequenz länger durch als sonst. Das musste an dem zurückliegenden beschissenen Tag und dem aufgestauten Frust liegen. Der Prof vom Fachbereich Sport hatte ihr Referat zur Energiebereitstellung über Kreatinphosphate mit einer lausigen Drei benotet und sich auch nicht umstimmen lassen. Vielleicht hatte sie nicht perfekt recherchiert, schon möglich, aber für eine Zwei hätte es trotzdem reichen müssen. Der Prof mochte sie einfach nicht, daran lag es.
Ihr Frust hatte aber noch einen anderen Grund.
Am Nachmittag war der erneute Versuch, ihre Freundschaft zu Laura doch noch zu retten, gescheitert. Wieder einmal. Laura war weder über Handy noch
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