Holunderliebe
Briefe, Tagebucheinträge und Schätze aus einem fremden Leben. Die beiden müssen sich geliebt haben, aber wenn ich mir ihre Briefe durchlese, bin ich mir nicht sicher, ob sie heute noch zusammen wären. Deine Schwester … meine Mutter wollte offenbar gar kein Kind, sondern lieber eine Karriere als Wissenschaftlerin. Mein Vater dagegen hat sich anscheinend richtig auf mich gefreut. Ihm scheint seine Laufbahn als Forscher gar nicht so wichtig gewesen zu sein. Am Schluss war das aber sowieso alles egal. Meine Mutter ist einem entgegenkommenden Auto ausgewichen und frontal auf einen Baum geknallt. Alle vier waren sofort tot.« Ich deutete auf ein paar Zeitungsausschnitte, die Thea seinerzeit in die Truhe gelegt haben musste. »In den Artikeln wird vor allem über das Wunder mit dem unverletzten Baby berichtet, dabei ist es eigentlich kein Wunder: Damals hatte man anscheinend nicht diese Babyschalen, in der heute alle Kinder sitzen. So habe ich in den Armen meines Vaters gelegen und bin im hohen Bogen durch das offene Fenster geflogen. Es kommt mir so ungerecht vor. Warum habe ich damals als Einzige überlebt?«
Thea kam näher und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Möchtest du nicht nach unten kommen und mit uns etwas zu Abend essen? Du kannst die Sachen doch morgen weiter durchsehen, wenn du willst.«
»Ich habe keinen Appetit«, wehrte ich ab. »Lasst mich einfach noch einen Augenblick hier oben sitzen. Ist das in Ordnung?«
Sie nickte und wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal zu mir um. »Bist du uns böse?«
Überrascht sah ich auf. »Nein. Ja. Ich weiß nicht, ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Ich denke, ich hätte meine Gefühle besser verstanden, wenn ich von meiner Vergangenheit gewusst hätte. Dieses komische Gefühl, nicht dazuzugehören, hätte mich vielleicht nicht so sehr in Selbstzweifel gestürzt.«
»Verzeih mir«, sagte sie und sah mich ernst an. »Wir haben es uns ein bisschen zu leicht gemacht.«
»Nein, ihr wolltet nur das Beste. Und jetzt muss ich zum ersten Mal überlegen, was nun wirklich das Beste für mich ist.«
Sie nickte und ging dann endgültig die Treppe hinunter. Erst jetzt sah ich, dass sie mir eine dampfende Tasse Tee hingestellt und mir einen Riegel von meiner Lieblingsschokolade dazugelegt hatte. Lächelnd biss ich ab. Dann sah ich mir noch einmal die Bilder an, die neben mir auf dem Boden lagen. So viel Zuversicht war in den Augen der vier Freunde zu sehen, die diesen Walahfrid-Garten anlegten.
Mit einem Mal erinnerte ich mich an den Grabstein von Simons Eltern. Womöglich befand sich auch das Grab meiner Eltern ganz in der Nähe. Damit war auch mein Entschluss gefasst, was ich jetzt tun würde. Ich wollte Abschied von meinen Eltern nehmen. Dann würde ich auch entscheiden können, wie es weitergehen sollte. Mit dem alten Gedicht, das immer noch bei der Buchbinderin in der Schublade lag, und mit dem Rest meines Lebens.
Es war schon dunkel, als ich nach unten ging. Meine Eltern sahen mich erwartungsvoll an. »Möchtest du ein Glas Wein mit uns trinken? Mit uns reden?«, fragte mein Vater.
»Nein. Ich fahre zurück auf die Reichenau. Ich habe das Gefühl, dass ich unbedingt noch einmal auf diesen Friedhof muss, um mich von meinen Eltern zu verabschieden. Mir gehen so viele Gedanken im Kopf umher – vielleicht finde ich dort ein bisschen Klarheit …«
»Du bist doch viel zu müde«, meinte meine Mutter mit besorgter Miene. »Ruhe dich doch wenigstens bis morgen aus, ich bitte dich. Es ist niemandem geholfen, wenn du auch einen Unfall hast. Es ist Nacht, und du bist heute doch schon so weit gefahren.«
»Ich kann sowieso nicht schlafen. Es ist mir lieber, ich sitze in deinem Auto, als dass ich mich in meinem Bett von einer Seite auf die andere wälze.«
»Dann mache ich dir wenigstens noch einen Kaffee. Ist das in Ordnung?«
Widerstrebend setzte ich mich noch einmal zu ihnen, während in der Küche die Kaffeemaschine gurgelte. Wir redeten nicht viel. Mein Vater sah mir schweigend zu, wie ich meinen Kaffee trank, und nahm mich zum Abschied kurz in den Arm. »Pass auf dich auf!«, ermahnte er mich, ehe ich mich auf den Weg machte.
Und so fuhr ich die Strecke wieder zurück, die ich am selben Vormittag in die andere Richtung gefahren war. Das Radio dudelte mich mit den »Hits der Achtziger, Neunziger und von heute« zu, und ich fühlte mich wie betäubt. Keine Gefühle, keine Tränen. Nur auf die Straße starren, kuppeln,
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