Holunderliebe
zornigem Gesicht vor dem Haus der Hebamme. »Wenn ich die Wahrheit nur irgendwie aus ihr herauskitzeln könnte!«
»Solltest du recht haben und ihre Familie bewahrt seit über tausend Jahren dieses Geheimnis, dann ist heute wohl nicht der Tag, an dem sie es lüften wird«, erklärte Hanna. »Wer ein Geheimnis so lange nicht teilt, kann doch gar nicht mehr anders, sonst würde sie doch das Handeln aller Generationen vor ihr infrage stellen. Verstehst du das nicht?«
Irmelas Blick fiel auf die üppigen Beete neben dem Haus der Hebamme. »Könntest du nicht wenigstens einen Blick auf diese Pflanzen werfen, Hanna? Ist da etwas dabei, was du nicht kennst? Blätter, deren Form dir fremd vorkommt?«
»Ich kann doch jetzt nicht herumspionieren«, protestierte Hanna. »Christine möchte das nicht, das hat sie ausdrücklich gesagt.«
»Ja, sicher, aber es gehen nun einmal nicht alle Wünsche in Erfüllung«, erklärte Irmela, ehe sie selbst zu dem Beet ging und es sich so genau wie möglich ansah. »Leider hat Christine recht: Ich kenne mich wirklich nicht aus. Die dreiundzwanzig Kräuter aus dem Walahfrid-Hortulus würde ich inzwischen schon erkennen – aber was den Rest betrifft, habe ich keine Ahnung.« Sie drehte sich zu Hanna um. »Jetzt komm schon! Du musst nur auf eine Pflanze deuten, das ist alles, was ich von dir will. Lass mich jetzt nicht hängen, nachdem wir so lange zusammengearbeitet haben.«
Hanna zögerte. Sie war selber voller Neugierde – und hatte gleichzeitig Angst, dass jede Sekunde die Tür zu Christines Haus wieder aufgehen und die Hebamme voller Zorn herausstürmen könnte. Aber Christine war offensichtlich der Meinung, sie habe Irmela eindrucksvoll genug hinauskomplimentiert. Oder sie hatte keine Ahnung, wie verbissen Irmela sein konnte, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte.
Vorsichtig machte Hanna drei Schritte und spähte in die Beete. Auf den ersten Blick sah alles so aus, wie man es bei einer Hebamme erwarten würde, die viel mit Kräutern arbeitete. Frauenmantel, Dost, Schafgarbe, Mutterkraut, Johanniskraut standen da. Sie wollte sich schon abwenden, als ihr Blick auf ein paar Blätter fiel, die sie noch nie gesehen hatte. Sie waren fein gefiedert, und die Knospen zeigten an, dass die Pflanze bald blau blühen würde. Neugierig beugte Hanna sich vor, nahm zwei Blättchen zwischen die Finger, zerrieb sie und roch daran. Leicht würzig, aber nichts, was ihr bekannt vorkam. Kurz entschlossen bückte sie sich und pflückte zwei kleine Zweige. Dann machte sie zwei Schritte rückwärts und winkte Irmela zu.
»Jetzt komm, wir sollten wirklich gehen, bevor Christine uns hier bemerkt!«, zischte sie.
»Keine Ahnung, was das ist«, erklärte Peter, während er wenig später zu Hause in der Gärtnerei die Zweige begutachtete. »Wir müssen in einem Bestimmungsbuch nachsehen. Außerdem bist du hier aufgewachsen und hast alles, was es über Kräuter zu wissen gibt, von deinen Eltern gelernt, Hanna. Wenn du es also nicht kennst, dann ist das schon sehr ungewöhnlich.«
Gemeinsam holten sie einige dicke Bücher aus dem Regal und fingen an, nach der Herkunft und dem Namen der beiden Zweige zu fahnden. Irmela sah ihnen dabei neugierig über die Schulter. Christian trug währenddessen seine kleine Tochter durch das Zimmer, klopfte ihr vorsichtig auf den Rücken und redete beruhigend auf sie ein.
Irmela fuhr irgendwann entnervt herum. »Willst du dich denn überhaupt nicht beteiligen? Das hier ist wichtig!«
»Für dich vielleicht«, entgegnete Christian. »Für mich ist es in diesem Augenblick wichtiger, deine kleine Tochter zu trösten, weil sie offensichtlich ein bisschen Bauchweh hat. Oder die Zuneigung ihrer Mutter vermisst, die sich lieber um irgendwelche Kräuter kümmert als um ihre Tochter. Dabei ist es doch gar nicht so wichtig, was dieses Zeug bewirken kann. Irgendwelche Medikamente können das auch, und zwar wahrscheinlich sehr viel zuverlässiger. Warum schluckst du heute Aspirin und nicht mehr einen Weidenrindenabsud? Weil du dir bei der Tablette sicherer sein kannst, dass dein Kopfweh auch wirklich verschwindet. So ist es wahrscheinlich auch mit eurem geheimnisvollen Zeug.«
Hanna sah grinsend von ihrem Buch auf. »Du hast natürlich recht. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob es möglich sein kann, dass die Hebammen der Reichenau seit Jahrhunderten über ein Mittel verfügen, das bei riskanten Geburten doch noch alles zum Guten wendet. Stell dir das vor: Meine Vorfahren hatten seit
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