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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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zu machen. Dabei kam heraus, was man erhält, wenn Leute, die monatelang offen und unbekümmert geplappert hatten, plötzlich beim Anblick eines Mikrofons meinen, nun müssten sie etwas für die Nachwelt sagen.
    Edgerton bekam einen weiteren Kindermord und löste den Fall. Bei dieser Gelegenheit lernte ich die Mutter des toten Mädchens kennen, die, was ich damals natürlich nicht wissen konnte, eine der Hauptfiguren meines nächsten Buches,
The Corner,
werden sollte. Die Geschichte der Ella Thompson begann für mich an der Tür ihres Reihenhauses in der Fayette Street, als ich dieses vom Leid gezeichnete Gesicht einer Mutter sah. Vier Jahre später traf ich sie zufällig im Freizeitheim an der Vincent Street wieder, als ich gerade mit dieser ganz anderen Geschichte begonnen hatte, von der auch die besten Detectives allenfalls einen flüchtigen Blick erhaschen.
    Während meines ganzen Jahrs im Morddezernat hatte ich eigentlich nie das Gefühl, dass ich mich zu weit mit den Polizisten einließ. Jedenfalls nicht wesentlich und sicherlich nicht in meinem Denken. Ich spielte meine Rolle, und am Tatort und bei Gericht fügte ich mich stets den Anweisungen der Vorgesetzten und der Ermittler. Zum guten Schluss hatte ich in der Gesellschaft der Detectives großen Spaß. Vier Jahre lang hatte ich über die Morde in der Stadt in jenem verkrampften, nichtssagenden Stil geschrieben, der die Spalten auf der letzen Seite des Lokalteils füllt – eine Art von Journalismus, der alle menschliche Tragödie,besonders die von dunkelhäutigen Opfern, in fade, vorfabrizierte Floskeln auflöst:
    Ein Zweiundzwanzigjähriger aus West Baltimore wurde gestern an einer Kreuzung unweit seiner Wohnung niedergeschossen. Nach Auskunft der Polizei haben die ermittelnden Detectives bislang weder ein Motiv noch Tatverdächtige. Möglicherweise waren bei dem Vorfall Drogen im Spiel.
    Antwon Thompson aus dem 1400er-Block der Stricker Street wurde von herbeigerufenen Streifenpolizisten gefunden …
    Plötzlich hatte ich Zugang zu einer Welt, die dieser fade Journalismus nie entdeckt, sofern er sie überhaupt sucht. Das waren keine Morde als Fixpunkte des Tagesgeschehens mehr. Ebenso wenig boten sie den Stoff für glasklare, perfekt dargebotene Moralstücke. Als der Sommer kam und in der Hitze von Baltimore die Zahl der Morde in die Höhe schnellte, wurde mir klar, dass ich in einer Art Fabrik gelandet war. Die Ermittlungen waren die reinste Fließbandarbeit. Hier, im Rust Belt Amerikas, in dem schon lange kaum noch Massenproduktion stattfand, war die Fabrikation von Kummer eine Wachstumsindustrie geworden. Vielleicht, so sagte ich mir, war es gerade die Normalität des Ganzen, die es so außergewöhnlich machte.
    Im Dezember versuchte die Polizei ein letztes Mal, dem Fish Man zu Leibe zu rücken, aber er war nicht zu knacken. Der Tod von Latonya Wallace würde ungesühnt bleiben. Doch zu dieser Zeit war mir bereits klar geworden, dass dieses offene, zweideutige Ende genau das richtige war. Ich rief John Sterling, meinen Herausgeber, in New York an und erklärte ihm, dass es so besser war.
    »Das ist die Realität«, sagte ich. »Das ist nun mal, wie es in der Welt läuft – besser gesagt, wie es nicht läuft.«
    Er stimmte mir zu. Im Grunde hatte er es schon vor mir gesehen. Er riet mir, endlich mit dem Schreiben anzufangen. Nachdem ich zwei Wochen lang auf den Bildschirm gestarrt und mich damit abquält hatte, den ersten verdammten Satz dieses verdammten Buchs zu schreiben, saß ich eines Abends mal wieder mit McLarney in der Market Bar. Er schwankte im Rhythmus seines neunten Miller Lite auf einem Hocker und schaute mich von der Seite an, ziemlich belustigt über meine Nöte.
    »Ich dachte, das wäre dein Beruf?«
    Ja, schon. Aber so was Großes wie ein Buch habe ich noch nie gemacht.
    »Ich weiß, was du schreiben wirst.«
    Sag’s mir.
    »Nicht über die Fälle. Die Morde. Will sagen, klar, du schreibst über die Morde, damit du ein Thema hast. Aber das ist alles bloß Nebensache.«
    Ich spitzte die Ohren.
    »Du schreibst über uns. Über die Jungs. Darüber, was wir so machen den ganzen Tag, und was wir für einen Mist reden, wie es uns stinkt, und wie lustig es manchmal zugeht und all den Scheiß, der im Büro passiert.«
    Ich nickte. Als hätte ich es schon die ganze Zeit gewusst.
    »Ich habe gesehen, wie du dir Notizen gemacht hast, wenn wir bloß rumgealbert haben, wenn wir rumsaßen und nur Unsinn getrieben haben. Wir machen Scheiß und

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