Homicide
Freunde werden – ihr habt so viel gemeinsam.« Natürlich fuhren wir so schnell wie möglich über den Hudson nach Jersey City, wo an jenem Abend die Stimmung kochte. Dort empfing uns Larry Mullane, ein Detective des Morddezernats von Hudson County und mein genialer Vergil, der mich in den vergangenen drei Jahren meines Schriftstellerlebens durch das Reich der Schatten geführt hatte. Davids Vater war in Jersey City aufgewachsen, und die Wege der Familien Mullane und Simon hatten sich im Lauf der Generationen sicher gekreuzt. Die Unruhen selbst erwiesen sich als schwer fassbar, irgendwie nah, aber zugleich untergründig, und ich erinnere mich vor allem an Simons zwanghaftes Bedürfnis,
dabei zu sein,
und das war für mich, als wäre ich meinem lange vermissten Zwillingsbruder begegnet.
Das zweite Mal trafen wir uns ein paar Jahre später, nach dem schrecklichen Mord, den Susan Smith in South Carolina an ihren Kindern verübt hatte. Ich befand mich in Vorarbeit für meinen Roman
Das Gesicht der Wahrheit
auf einer Art Forschungsreise zum Medeasyndrom. In Baltimore hatte es eine ähnliche Tragödie gegeben: Die weiße Mutter zweier Mädchen, deren Vater ein Schwarzer war, hatte ihr Haus angezündet, während ihre Töchter schliefen. Angeblich war ihr Motiv, jedes Hindernis zu beseitigen, das ihrer neuen großen Liebe im Weg stand. Ihr Freund war, wie sie sagte, wenig begeistert von ihren beiden Kindern (was er später bestritt).
Damals hängte sich David ans Telefon und schleppte mich zu allen irgendwie Beteiligten, die zu einem Interview bereit waren: Zu den Detectives, die die Frau verhaftet hatten, zum Freund der Mutter, zu der Großmutter, die gleich einen dreifachen Verlust erlitten hatte, zu dem arabischen Besitzer des Ladens, in den die Mutter geeilt war, vorgeblich, um den Notruf zu wählen. (Erst einmal, so der Ladenbesitzer, rief sie ihre Mutter an.) Aus journalistischer Sicht hatte die Geschichte ihrHaltbarkeitsdatum bereits überschritten, aber Simon war fest entschlossen, die Story für
mich
an Land zu ziehen, sodass er sofort wieder in den Arbeitsmodus umschaltete. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich geistig und körperlich mit einem echten Straßenreporter mithalten. Neben zahlreichen Interviews gehörte dazu auch der allerdings erfolglose Versuch, unter allerlei Vorwänden und Lügen an dem Uniformierten vorbeizukommen, der immer noch den Tatort bewachte. Schließlich umgingen wir den Arm des Gesetzes durch ein Ausweichmanöver. Wir schlichen uns auf die Rückseite, kletterten über Zäune und befanden uns schließlich in dem rußgeschwärzten Haus. Blieb nur noch, die Treppe hinaufzusteigen, um in das kleine Zimmer zu gelangen, in dem die beiden Mädchen am Rauch erstickt waren. Es war, als stünden wir im lichtdurchlässigen Gerippe eines Tigers. Wohin wir auch blickten – die Wände, die Decken, die Böden –, überall nur die Rußstreifen, die die Flammen hinterlassen hatten. Ein niederschmetternder Anblick, ein kleines Stück der Hölle.
Doch kehren wir zurück zu jenem ersten Abend in Jersey City. Irgendwann kam das Gerücht auf, die Aufrührer spannten Klavierdrähte über die Straßen, um die Cops, die mit Motorrädern unterwegs waren, zu enthaupten, worauf sich Larry Mullane, der selbst einmal Motorradstreife gefahren war, augenblicklich von uns verabschiedete. So befanden wir uns plötzlich allein in einem zivilen Polizeifahrzeug (eigentlich ein Widerspruch in sich, nicht wahr?), ich hinter dem Steuer und Simon auf dem Beifahrersitz. Mullane hatte uns geraten: »Bleibt in Bewegung. Und wenn euch jemand zu nahe kommt, seht ihn einfach wütend an und gebt Vollgas.« Und genau das taten wir, was mich auf eine Frage bringt, die mich immer gequält hat: Sind Autoren wie wir, die wie besessen sind von dem Wunsch, in Tatsachenberichten oder fiktionalen Texten die Einzelheiten des Lebens in den urbanen Schützengräben Amerikas festzuhalten, wir, die, um sehen zu können, was wir sehen müssen, zu einem Großteil vom Edelmut der Cops abhängen, sind wir (ach du Scheiße …) etwa Polizeifans?
Inzwischen glaube ich: nicht mehr, als wir Fans der Verbrecher und der braven Bürger sind. Aber wer immer uns diesseits und jenseits des Gesetzes Einblick in seine Welt gewährt, für den bringen wir mit Sicherheit Empathie auf – wir werden im Grunde zu »eingebetteten Journalisten«.Das ist nicht so schlimm, wie es vielleicht klingt, solange unser Dankeschön in etwa so lautet: Als Chronist
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