Homicide
mit von der Partie.
Oft blieb ich zwei Schichten am Stück, kam um vier Uhr nachmittags und blieb bis zum frühen Morgen. Manchmal machte ich auch um Mitternacht Schluss, dann tranken wir bis zum Morgengrauen, und ich wankte nach Hause und schlief bis zum Abend. Zu meinem eigenen Erstaunen lernte ich, dass es hilft, wenn man sich nach einer durchzechten Nacht am frühen Morgen zwingt, Alkohol zu trinken.
An einem Februarmorgen hatte ich den Morgenappell verpasst und lag noch mit brummendem Schädel im Bett, als mich Worden anrief und mir sagte, auf einem Hof in Reservoir Hill sei ein totes Mädchen gefunden worden. Zehn Minuten später war ich am Tatort und schaute auf die aufgeschlitzte Leiche von Latonya Wallace. Das war der Anfang einer Ermittlung, die das Rückgrat meines Buches bilden sollte.
Ich begann, mich auf diesen Fall zu konzentrieren. Auf Pellegrini, den neuen Mann. Auf Edgerton, den Einzelgänger, den zweiten Ermittler in diesem Mord, und auf Worden, das bärbeißige Gewissen des Teams. Ich redete weniger, hörte mehr zu und lernte, meinen Stift und den Notizblock diskret hervorzuziehen, um in den heiklen Momenten nicht alle durcheinanderzubringen.
Mein eifriges Aktenstudium und meine vielen Doppelschichten, bei denen ich das Kommen und Gehen der Detectives beobachtete, führten dazu, dass ich bald so etwas wie die Auskunft vom Dienst war:
»Wo steckt denn Barlow?«
»Der ist beim Gericht. Abteilung achtzehn.«
»Ist Kevin bei ihm?«
»Nein, der ist in der Bar.«
»Mit wem?«
»Rick James und Linda. Garvey ist auch dabei.«
»Wer macht die Payson von gestern Nacht?«
»Edgerton. Er ist nach dem Leichschauhaus erst mal nach Hause und will um sechs wieder da sein.«
Hauptsächlich jedoch fanden mich diese Männer unterhaltsam, ich war für sie ein schräger Achtundzwanzigjähriger, der ihnen Zerstreuung bei der Arbeit bot – »eine Maus, die man in einen Raum voller Katzen wirft«, wie Terry McLarney es einmal beschrieb. »Du hast Glück, dass wir uns alleine miteinander so langweilen.«
Wenn ich frühmorgens zu einer Autopsie mitging, dann vollführte Donald Steinhice seine Bauchrednerkunststückchen und beobachtete belustigt, wie ich nach den Leichen schielte. Anschließend schleppte mich Dave Brown ins Penn Restaurant, wo er die widerliche Chorizo-Eier-Platte bestellte, um mal zu testen, was der Grünschnabel so aushielt. Wenn ich einem erfolgreichen Verhör beiwohnte, wollte Rich Garvey am Ende wissen, ob ich vielleicht noch ein paar Fragen hätte, und lachte dann laut los, wenn bei mir der Reporterfimmel durchbrach. Und wenn mir während einer Nachtschicht die Augen zufielen, dann fand ich beim Aufwachen Polaroidfotos von mir, den Kopf im Nacken, mit offenem Mund, flankiert von grinsenden Detectives, die mit durch den Hosenschlitz gestecktem Daumen posierten, als würde ich ihnen einen blasen.
McLarney füllte meinen grünen Schein aus, den halbjährlich zu erstellenden Beurteilungsbogen, der von den Polizisten in Baltimore so gehasst wird. »Professioneller Spitzel«, lautete sein Resümee. »Es bleibt unklar, was eigentlich der Aufgabenbereich des Praktikanten Simon ist, aber er fällt immerhin nicht durch Unsauberkeit auf und scheint recht gut über unsere Arbeit Bescheid zu wissen. Seine sexuellen Gelüste sind allerdings nach wie vor äußerst verdächtig.«
Zu Hause, mit nichts als einer Matratze auf dem Fußboden – die meisten Möbel hatte meine Frau mitgenommen –, tippte ich stundenlang in den Computer, was mir durch den Kopf ging, wertete meine Notizbücher aus, sortierte meine Beobachtungen in einzelne Fallordner, legte Biografien und Chronologien an.
Der Fall Latonya Wallace war nach wie vor ungeklärt. Das quälte mich – aber nicht etwa, weil ein Mörder frei herumlief und das brutale Verbrechen an dem Kind ungesühnt blieb. Nein, meine Gedanken kreisten viel zu eng um das Buch, mit dem ich endlich anfangen musste, um auch nur einen Augenblick in moralische Kategorien zu geraten. Was mir zu schaffen machte, war vielmehr, dass ihm der Höhepunkt fehlen würde, dass am Ende alles offen bleiben und ich keinen richtigen Schluss finden würde.
Ich trank noch etwas mehr, allerdings bezahlten im Sommer die Detectives, vielleicht aus Mitleid, genauso viele Runden, wie ich auf meine Kreditkarte nahm. Um mich noch ein wenig vor der eigentlichen Arbeit, dem Schreiben, zu drücken, vergeudete ich ein oder zwei Wochen damit, ausführliche Tonbandinterviews mit den Detectives
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