Homicide
der für die Einsätze zuständige stellvertretende Polizeichef, die Nummer zwei der Polizei von Baltimore. Und eine informelle Umfrage ergab, dass die meisten Detectives die Vorstellung, dass ihnen ein Journalist bei der Arbeit über die Schulter sah, einfach nur furchtbar fanden. Mein Glück war, dass die Polizei ähnlich strukturiert ist wie das Militär und eine klare Befehlshierarchie hat. Demokratie findet anderswo statt.
Ich sollte nie Gelegenheit bekommen, Tilgham zu fragen, wie er zu dieser Entscheidung kam. Er starb, bevor das Buch erschien – sogar schon, bevor ich meine Recherchen beendet hatte. »Du fragst dich, warum er dich hier reingelassen hat? Der Mann hatte einen Hirntumor. Reicht das nicht als Erklärung?« Das war Rich Garveys Antwort.
Wer weiß. Jahre später erzählte mir Dick Lanham, der Leiter des Criminal Investigation Department, also der Kriminalpolizei, dass die Entscheidung vielleicht doch einen etwas anderen Hintergrund hatte. In einer Debatte über meinen Status hatte Tilghman erwähnt, dass er seine Jahre in der Mordkommission als die schönsten und befriedigendsten seiner ganzen Karriere betrachte. Ich will gerne glauben, dass ihn das veranlasste, mir die Türen des Morddezernats zu öffnen, obwohl vielleicht auch Garvey nicht ganz unrecht hat.
Jedenfalls trat ich am 1. Januar 1988 mit dem sonderbaren Rang eines»Polizeipraktikanten« meinen Dienst an und verbrachte den Neujahrstag mit den Männern – sämtliche neunzehn Detectives und ihre Vorgesetzten waren Männer – der Schicht von Lieutenant Gary D’Addario.
Die Spielregeln waren ziemlich klar. Ich durfte nichts von dem, was ich hörte und sah, an meine Zeitung weitergeben, und ich hatte allen Anordnungen der Vorgesetzten und auch der Detectives Folge zu leisten. Ich durfte niemanden namentlich zitieren, der mir dies nicht ausdrücklich gestattete. Und das fertige Manuskript sollte noch einmal von der Rechtsabteilung durchgesehen werden – nicht, um es zu zensieren, sondern um sicherzustellen, dass ich keine wichtigen Ermittlungsergebnisse in noch offenen Fällen preisgab. Aus dieser Durchsicht ergaben sich am Ende keine Änderungen.
Schicht um Schicht füllte ich unter den oft misstrauischen Blicken der Detectives zahlreiche Notizblöcke mit einem beständigen Strom von Zitaten, Falldetails, biografischen Daten und allgemeinen Eindrücken – geradezu fieberhaft, wie mir im Rückblick scheint. Ich arbeitete mich durch sämtliche Fallakten aus dem Vorjahr, ebenso durch große Fälle, über die ich als Polizeireporter schon berichtet hatte: die Schießerei beim Warren House, die Bronstein-Morde, der Barksdale-Krieg in den Murphy Homes 1982, der Raubmord an einem Schüler der Harlem Park Junior High im Jahr 1983, der sterben musste, weil jemand seine Jacke haben wollte. Ich konnte kaum glauben, dass ich einfach ins Verwaltungsbüro spazieren und mir ganze Fallakten herausziehen, mich mit ihnen an einen Schreibtisch setzen und sie in aller Ruhe durchlesen konnte. Unfassbar auch, dass man mich nicht von den Tatorten oder aus dem Verhörraum jagte. Manchmal befürchtete ich, die Polizeiführung könnte es sich doch anders überlegen, meinen Dienstausweis einziehen und mich auf die Straße setzen.
Doch aus Tagen wurden Wochen, und den Detectives – selbst den vorsichtigen, die anfangs rasch den Ton änderten, wenn ich den Raum betrat – war es bald zu mühsam, in meiner Gegenwart zu schauspielern und sich zu verstellen.
Ich lernte zu trinken. Ab und zu legte ich meine Kreditkarte auf den Tisch, woraufhin die Detectives mir zeigten, wie trinkfest sie waren und ich noch einiges zu lernen hatte. Als wir einmal spät in der Nacht aus der Market Bar wankten, sah mich Donald Worden an, als würde ermich zum ersten Mal wahrnehmen – bei Einsätzen und bei der Arbeit an seinen Fällen duldete er mich zwar an seiner Seite, behandelte mich aber dennoch immer etwas verächtlich –, und lallte: »Jetzt sag mal ehrlich, Simon. Was willst du eigentlich sehen? Was, zum Teufel, glaubst du, das du bei uns zu sehen bekommst?«
Ich wusste keine Antwort. Ein ganzer Stapel Notizbücher lag inzwischen auf meinem Schreibtisch, ein zerfledderter Turm voll wahllos zusammengewürfelter Details, der mich verwirrte und einschüchterte. Eigentlich wollte ich nur sechs Tage die Woche arbeiten, aber meine Ehe ging gerade in die Brüche, und so wurden es eben öfter sieben. Wenn die Detectives dann nach der Arbeit durch die Kneipen zogen, war ich
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