Homicide
können. Immerhin ist es mir einmal, im Dezember, dann doch passiert, dass ich die Grenzen überschritten habe – dass ich mich »mit den Einheimischen gemein gemacht habe«, wie man das unter Journalisten nennt. Ich saß auf dem Rücksitz eines zivilen Polizeifahrzeugs, das auf der Pennsylvania Avenue unterwegs war. Ich begleitete Terry McLarney und Dave Brown, die auf der Suche nach einer Zeugin waren. Auf einmal hielten sie am Straßenrand an, da sie eine Frau gesehen hatten, auf die die Beschreibung zutraf. Sie war in Begleitung zweier junger Männer. McLarney sprang aus dem Wagen und schnappte sich den einen. Brown wollte ihm hinterher, blieb aber mit dem Gürtel seines Trenchcoats im Sicherheitsgurt hängen. »Los!«, rief er mir zu und versuchte sich zu befreien. »Hilf Terry!«
Lediglich mit meinem Kugelschreiber bewaffnet folgte ich McLarney, der in eine Rangelei mit dem einen Mann geraten war, den er gegen ein geparktes Auto zu drücken versuchte, während der andere ihn nur finster anstarrte.
»Nimm ihn fest!«, schrie mir McLarney zu und deutete auf den zweiten.
Und so, in einem Augenblick der Schwäche, geschah es, dass ein Polizeireporter aus Baltimore einen Bürger seiner Stadt vor ein geparktes Auto stellte und die wohl inkompetenteste Leibesvisitation durchführte, die die Stadt je gesehen hat. Als ich bei den Knöcheln des Kerls angelangt war, riskierte ich einen Blick zu McLarney.
Wie nicht anders zu erwarten, lachte er aus vollem Hals.
D AVID S IMON
Baltimore
März 1991
Post Mortem
Um richtig zu würdigen, wie die Idee zu diesem Buch entstand, müssen wir nunmehr zwanzig Jahre zurückgehen, zu einem Weihnachtsabend, den ich mit Roger Nolan, Russ Carney, Donald Kincaid und Bill Lansey verbrachte, die einen Mord aufnahmen, einen Routinefall. Ich wollte ein Feature darüber schreiben, was Weihnachten für Menschen bedeutet, die diesen Tag damit verbringen, wegen eines Tötungsdelikts zu ermitteln. Ich gestehe freimütig, dass es mich reizte, all das »Stille Nacht, heilige Nacht« durch den Bericht über eine kleine Messerstecherei in Pimlico zu durchlöchern, und ich hoffte, dass einige Leser der
Baltimore Sun
dies zu schätzen wissen würden.
Also machte ich mich mit einem Fläschchen auf zum Präsidium, schlüpfte durch die Sicherheitsschleuse und hängte mich an die Mordkommission, die dort in jener Nacht zu einer Straßenschießerei, einem Drogentoten und der erwähnten Messerstecherei ausrückte. Später, als der größte Teil der Arbeit erledigt war und aus dem Bürofernseher ein frühmorgendliches Chorkonzert Weihnachtsstimmung zu verbreiten versuchte, saß ich mit den Detectives zusammen, während Carney Bier ausschenkte.
Dann tönte die Glocke des Aufzugs, und Kincaid erschien, zurück von der letzten Schießerei der Schicht – irgendeine trostlose Geschichte, bei der jemand mit einer Kugel im Oberschenkel am Ende im Krankenhaus landete. Er würde den Neujahrstag erleben.
»Die meisten Menschen stehen heute Morgen auf, schauen unter den Baum und finden irgendein Geschenk. Einen Schlips, eine neue Geldbörse, oder was weiß ich«, sinnierte Kincaid. »Der arme Kerl hat eine Kugel zu Weihnachten bekommen.«
Wir lachten. Und dann – nie werde ich diesen Augenblick vergessen – sagte Bill Lansey: »Was hier oben alles für ein Scheiß abgeht. Wenn nur mal jemand aufschreiben würde, was hier in einem Jahr so los ist, da könnte ein verdammt gutes Buch draus werden.«
Zwei Jahre später erlag Bill Lansey, Gott hab ihn selig!, einer Herzattacke, und ich hatte auch ein paar Probleme. Trotz Rekordgewinnen stritt sich meine Zeitung erbittert mit der Gewerkschaft um die Kürzung von Sozialleistungen, Streiks drohten – ein Konflikt, der die beiden nächsten Jahrzehnte im Zeitungswesen bestimmen sollte. Ich war damals ziemlich sauer auf meine Bosse, und da ich jemand bin, der sich leicht in so etwas hineinsteigert, hielt ich es für eine gute Idee, mich für eine Weile freistellen zu lassen, sodass mir mein Job bei der Tageszeitung erhalten blieb, ich aber nicht in der Redaktion erscheinen musste.
Und dann erinnerte ich mich an Lanseys Bemerkung und schrieb an den Polizeichef von Baltimore, Edward J. Tilghman. Ob es möglich sei, fragte ich ihn ganz naiv, seine Detectives ein Jahr bei der Arbeit zu begleiten.
Ja, antwortete er, das sei möglich.
Für seine Entscheidung habe ich bis heute keine schlüssige Erklärung. Der Captain, der das Morddezernat leitete, war dagegen, ebenso
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