Hühnergötter
Sie die Frau kennen?«
Oliver verzog den Mund zu einem geringschätzigen Lächeln. »Ich habe, um ehrlich zu sein, nicht darüber nachgedacht. Aber wenn Sie auf einer Antwort bestehen – nein, ich weiß immer noch nicht, wo ich ihr begegnet bin. Wahrscheinlich im Atelier. Es gibt ’ne Menge Laufkundschaft, die sich kurz umsieht und dann wieder geht. Etwas in der Art kann es gewesen sein.«
Schöbel machte Notizen. Ostwald senkte den Kopf, bis sein Doppelkinn am Hemdkragen anstieß, und legte das Gesicht in betrübte Falten. Dann erklärte er mit schulmeisterlicher Geduld: »Sehen Sie, Herr Eggert, wenn etwas so Schlimmes passiert wie die Entführung eines Kindes, dann ermitteln wir umfassend und sehr gründlich. Davon bekommen die Betroffenen längst nicht alles mit. Nicht immer, aber meistens gewinnen wir so viele Erkenntnisse, dass ein klares Bild von den beteiligten Personen entsteht. Des Opfers, der Angehörigen, des Täters. Oder, wie in diesem Fall, der Täterin.« Er machte eine Pause, in der er Oliver aus seinen blassen, vorquellenden Augen anstarrte. Im Raum blieb es für ein paar Augenblicke vollkommen still. Durch die Fenster schien eine warme Septembersonne ins Zimmer, in deren Licht Staubteilchen flirrten.
Oliver lehnte sich gelangweilt zurück, wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schlug lässig ein Bein über das andere. »Am besten, Sie sagen einfach, worauf Sie hinauswollen. Das erspart uns allen viel Zeit«, schlug er vor.
»Nun gut«, entgegnete Ostwald, und es klang wie »du hast es nicht anders gewollt«. »Sandra Marwede wurde in Oebisfelde geboren. 1972, um genau zu sein. Wir haben mit ihren Eltern gesprochen, mit ihren Freundinnen. An größere Probleme mit ihr konnte sich niemand erinnern. Sie war neugierig, ein bisschen draufgängerisch und vielleicht ein bisschen zu lebenslustig, aber auch empfindsam und leicht zu verletzen. Ein paar verkorkste Liebesgeschichten haben ihr wohl sehr zugesetzt, aber sie schien sich immer wieder zu berappeln. Das glaubten wenigstens ihre …«
»Und jetzt kommt irgend so ein Psychoquark, und wir sollen womöglich noch Mitleid haben, dass die Ärmste unsere Tochter entführen musste«, fiel Oliver ihm höhnisch ins Wort.
Marie musterte ihren Mann mit ausdruckslosem Gesicht. Sie fühlte sich, als rolle eine Lawine auf sie zu, die mit jeder Umdrehung schneller und größer wurde und zermalmte, was in ihrer Bahn lag. Sie spürte die Angst im Körper wie ein Summen, das sie schwindlig werden ließ, bis sie meinte, der Boden schwanke unter ihren Füßen.
»Nicht ganz, Herr Eggert«, korrigierte Ostwald. »Aber lassen Sie mich auch den Rest von Sandras Geschichte erzählen.«
Schneiderin habe sie gelernt und geglaubt, das große Los gezogen zu haben, als sie vor zehn Jahren Arbeit bei Volkswagen fand, auch wenn es viel langweiliger war, Polster zu nähen statt Sommerkleider und Kostüme. Aber sie verdiente gut, und die Fahrt von Oebisfelde nach Wolfsburg sei ein Klacks, sagte sie. Und mit dem Geld konnte sie sich ihre kleinen Träume erfüllen. Ein Auto, Reisen nach Italien und Spanien. Nach Paris fuhr sie sogar zweimal. Und im Sommer nach Hiddensee. Nicht wie früher als Kind bei den Eltern im Zimmer, mit Zustellbett, ohne Frühstück. Sie fand das Kranichhaus, das sie jedes Jahr mieten konnte, und lud ihre Freundinnen ein. Mit einem Mann kam sie nie.
Dafür, dass sie sich vor drei Jahren plötzlich veränderte, habe niemand eine Erklärung gefunden. Sie wurde mürrisch und abweisend, brach alle Kontakte ab und zog nach Wolfsburg.
Früher sei sie hübsch gewesen, sagten ihre Kollegen, aber dann habe sie sich gehen lassen, habe stark zugenommen und eine teigige, unreine Haut bekommen und irgendwie krank ausgesehen, auch wenn sie später wieder dünner, eigentlich fast mager geworden sei.
»Es scheint niemand, aber auch wirklich niemand etwas von der Schwangerschaft gewusst zu haben«, fuhr Ostwald fort.
»Wann? Wann war sie schwanger?«, fragte Marie leise.
»Vom Spätsommer 2001 bis zum neunten Mai 2002«, antwortete Ostwald und fügte hinzu: »Himmelfahrt.«
Maries Blick irrte von Ostwald zu Schöbel und dann zu Oliver, der mit gelangweilter Miene zwischen den Polizisten hindurch aus dem Fenster schaute.
»Aber wo …? Ich meine, war denn …«, begann Marie und brach hilflos ab.
Die Lawine schien größer zu werden, ihr dröhnen lauter, ohne dass Marie wusste, warum.
»Das haben wir uns auch gefragt«, erriet Ostwald ihre Gedanken.
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