Hühnergötter
gestemmt, dann anders herum. Der rechte Fuß gegen das linke Knie, die Hände Richtung Himmel erhoben, bevor er langsam ins Wasser schritt. Marten nannte ihn bei sich den Turner , wegen der Übungen und weil kein Gramm Fett an dem alten Körper zu sehen war, nur Sehnen und flache Muskeln.
Dass einer frühmorgens die Hände zum Himmel streckte, gefiel ihm.
Auf seinem Weg zwischen Strandkörben und Meersaum sammelte er das Strandgut auf. Im Sommer landeten Trinkpäckchen, Stullenpapier und leere Sonnenmilchtuben oder Colaflaschen in der Tüte, die er aus seiner Jackentasche zog. Wenn er genau hinsah, gelang es ihm auch, Zigarettenkippen aus dem Sand zu fischen, Kronkorken oder, schlimmer noch, Glasscherben. Im Winter und bei schlechtem Wetter gefiel ihm seine Ausbeute besser. Bizarre Holzstücke, große und kleine Muscheln, manchmal ein Hühnergott oder ein Stück Bernstein.
»Du darfst nichts mitbringen, was jemand anderem gehört«, hatte ihm die Mutter immer wieder eingeschärft. Es hatte eine Weile gedauert, bevor er den Unterschied begriff. Der Urlauber würde den Hühnergott oder das Bernsteinstück mit nach Hause nehmen, wenn er es vor Marten fand. Solche Sachen gehörten niemandem. Wer sie als Erster sah, durfte sie behalten. Aber im Sommer brachten die Urlauber Handtücher, Sonnenhüte, Badehosen mit und vergaßen sie am Strand. Dort mussten sie bleiben. Auch wenn Marten morgens zuerst da war, durfte er sie nicht nehmen. Wenn er Handtücher oder Badehosen fand, hängte er sie über die Seitenlehne des nächsten Strandkorbs.
Der Wind ließ die leere Plastiktüte knistern, während Marten seinen Strand abschritt und alles so fand, wie es sein sollte. Die Mühle reckte ihr schwarzes Dach hinterm Deich in den wolkenlosen rötlichen Himmel, auf den Buhnen hockten die Möwen zum Morgenappell, die Strandkörbe standen vorschriftsmäßig mit dem Rücken zum Meer, damit sich keiner von ihnen bei einem kräftigen Windstoß davonmachen konnte. Aber dass oben, dicht an der Düne, von einem grün-weiß gestreiften Korb das Schutzgitter fehlte, gehörte sich nicht.
Marten stapfte hinauf Richtung Deich und fand es hinter dem Korb. Jemand musste spät noch gebadet haben. Auf dem sandigen Sitz war ein dickes Knäuel Handtücher liegen geblieben. Nichts, was ihn etwas anging. Er hob das Holzgitter auf, um es in die Halterungen zu hängen. Später würde der Urlauber kommen, bemerken, dass er seinen Strandkorb nicht abgeschlossen hatte und trotzdem seine Handtücher auf dem Polster entdecken.
Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es war fremd. Es gehörte nicht hierher, das wusste Marten sofort.
Er kannte das Schreien der Möwen, wenn es ganz nah war oder sehr fern. Das Schmatzen des Meeres an den Buhnen wie an allen ruhigen Sonnentagen.
Er legte das Gitter zurück in den Sand, machte zwei hastige Schritte rückwärts und blickte sich um. Außer ihm war niemand am Strand. Auch der Turner nicht mehr. Marten kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Er biss sich auf die Fingerkuppen. Er fuhr sich durch das struppige blonde Haar und stieg hastig von einem Fuß auf den anderen.
Wieder dieser leise kurze Ton aus dem Tuchknäuel. Ein Quäken? Ein helles Knurren?
Welpen ! In dem Tuch mussten Welpen sein! Marten ließ erleichtert die Arme sinken. Das Entsetzen in seinem Gesicht löste sich langsam in einem Lächeln auf. Er trat auf den Strandkorb zu, hob die Hand und zog das hochgeschlagene Tuch ein wenig zur Seite. Es kamen keine Welpen dahinter zum Vorschein. Martens Augen weiteten sich erstaunt, und das Lächeln in seinem Gesicht wurde tiefer und glücklicher.
Er hatte einen Menschen gefunden. Einen winzigen Menschen, dessen Augen in dem roten zerdrückten Gesicht nicht zu erkennen waren. In den Furchen der schrumpligen Stirn und um die Nase herum klebten Reste einer weißlichen Paste. Ganz langsam, als wolle er jede unbedachte Bewegung vermeiden, sank Marten vor dem Strandkorb auf die Knie, ließ seine Hand mit den kurzen, dicken Fingern über dem Köpfchen schweben und betrachtete ehrfürchtig das Kind. Den weichen Flaum, der sich hinter den Ohren ringelte, die feine Linie der Lippen unter der winzigen Nase. Auf dem Wangenknochen neben dem linken Auge des Kindes entdeckte er ein Mal. Zwei kleine dunkle Flecken, so dicht beieinander, dass sie sich zu berühren schienen.
Er streckte den Zeigefinger aus, legte die Kuppe sanft auf das Mal und flüsterte: »Lewet wittet Seelken.« Seine Mutter hatte es ihm früher oft ins Ohr
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