Hueter der Daemmerung
starrte sie ungläubig an. Diese Begründung war so grotesk, dass er ein kurzes bitteres Lachen ausstieß. »Und du glaubst, dich von mir zu trennen, hätte mich nicht verletzt? Die letzten Tage waren die Hölle für mich, echt die Hölle.«
»Für mich doch auch«, flüsterte sie. »Aber –«
»Und selbst wenn! Selbst wenn du mich krank machst, auf irgendeine schreckliche Art und Weise, von der wir nichts wissen … Jesses, Willow, ich weiß doch noch nicht mal, ob ich den morgigen Tag noch erlebe! In meinem Job erwarte ich sowieso kein langes Leben, okay? Und das, was mir davon noch bleibt … möchte ich mit dir verbringen.« Er nahm ihre Hände und küsste sie. »Bitte«, sagte er. »Das möchte ich mit dir verbringen.«
Ihre Augen waren feucht, ihre Miene voller Sehnsucht. Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde nachgeben – dann machte sie sich sanft los. »Und was, wenn dein Leben noch kürzer wird als ohnehin schon, weil du mit mir zusammen bist?«, fragte sie. »Was, wenn du ein Jahr früher stirbst und genau dieses Jahr im Kampf gegen die Engel den entscheidenden Durchbruch bedeutet hätte?«
»Ja, und was, wenn es mich so glücklich macht, mit dir zusammen zu sein, dass ich ein paar Jahre länger lebe, weil ich etwas habe, für das es sich tatsächlich zu leben lohnt?«, konterte er hitzig. »Wir haben keine Ahnung, wie alles kommt! Du kannst nicht einfach für uns beide entscheiden!«
»Aber hier geht es doch nicht allein um uns, siehst du das denn nicht?« Ihr Blick war gequält. »Ich muss schon mit dem Wissen leben, dass … ich einen Anteil habe, an dem, was heute passiert ist. Eine ganze Stadt … die vielen Menschen …« Hilflos verstummte sie. »Glaubst du, ich würde irgendetwas tun, was der Welt noch größeren Schaden zufügen könnte?«
»Nichts davon war deine Schuld«, sagte er mit leiser Stimme. »Es war Raziel – Raziel hat dich benutzter hat uns alle benutzt. Meinst du etwa, ich habe keine Angst? Zwei aus meinem Team haben das Angelburn-Syndrom, zwei werden vermisst – und ich konnte es nicht verhindern! Aber ich muss weitermachen, und du auch. Lass nicht zu, dass er uns, zusätzlich zu allem anderen, auch noch auseinanderreißt.«
Beinahe schluchzend stieß sie die Luft aus. Sie schlang die Arme um sich und starrte auf einen Baum in der Nähe, als wolle sie sich seinen Anblick im Mondlicht in allen Einzelheiten einprägen.
»Alex … ich kann nicht. Ich würde jeden Tag Todesängste ausstehen. Wenn wir uns berühren, wäre ich jedes Mal krank vor Sorge, dass ich dich verletze.«
Der Gedanke, dass dies das Einzige war, was zwischen ihnen stand, war eine Qual. »Willow, du verletzt mich nicht. Und wenn du uns wirklich deswegen auseinanderbringst, und das, obwohl du mich ebenso sehr liebst, wie ich dich – dann wäre das der größte Fehler deines Lebens.« Abermals packte er ihre Hände. »Wie kann ich dich nur überzeugen, dass du dich irrst? Grundgütiger, was soll ich bloß sagen, was soll ich tun? Hilf mir doch, bitte …«
Stocksteif stand sie da. Endlich atmete sie bedächtig aus. »Es gibt nichts, was du sagen und nichts, was du tun kannst. Denn keiner von uns beiden kann sich sicher sein. Und ich werde es nicht darauf ankommen lassen.« Sie blickte auf ihre Hände in seinen, drückte seine Finger, und löste sich sanft aus seinem Griff. Ihre Stimme war schwer von ungeweinten Tränen. »Verzeih mir. Bitte fass mich nicht mehr an.«
Nein. Nein. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihnen das antat. Irgendwie musste er ihr klarmachen, dass sie vollkommen falsch lag. Das Absurde daran war, dass sie bei jedem anderen Menschen mithilfe ihrer hellseherischen Fähigkeiten die Wahrheit im Handumdrehen erkannt hätte. Aber ihre Gefühle ihm gegenüber waren so verworren, dass sie nichts erkennen würde, wenn sie ihm aus der Hand läse, das wusste Alex.
Die rettende Idee überfiel ihn aus heiterem Himmel, zusammen mit einer Woge der Hoffnung, die so heftig in ihm aufwallte, dass es beinahe wehtat.
»Warte!«, sagte er, als sie sich zum Gehen wandte. »Willow, und wenn Seb uns hilft? Was, wenn er in meiner Hand liest, dass ich recht habe? Was dann?«
Ihre Miene wurde vor Überraschung ganz ausdruckslos. Still wie eine Statue im Mondlicht starrte sie ihn an. Dann schluckte sie. »Das … wäre das Wunderbarste auf der ganzen Welt«, erwiderte sie ganz, ganz leise.
Als sie zum Lagerfeuer zurückkehrten, war Seb noch da. Er hatte das Feuer wieder angefacht und schaute in die
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